COVID-19: Höhere Übersterblichkeit in ärmeren europäischen Ländern mit niedriger Impfquote

Mailand – Von 2020 bis 2023 sind in 29 Ländern Europas 1,6 Millionen mehr Menschen gestorben als in vergleichbaren Zeiträumen zuvor, darunter 218.000 in Deutschland. Am härtesten getroffen hat die Pandemie nach einer Studie in Lancet Regional Health Europe (2024; DOI: 10.1016/j.lanepe.2024.100996) die ärmeren Länder in Südosteuropa und im Baltikum, wo das Gesundheitswesen unterfinanziert und die Impfquote niedrig ist.
Die Zahl der registrierten Todesfälle an oder auch mit COVID-19 ist ein ungenauer Gradmesser der Pandemie. Zum einen lässt sich nicht immer feststellen, welchen Anteil die Infektion mit SARS-CoV-2 am Tod hat. Es wurde viel darüber diskutiert, dass viele Menschen auch ohne COVID-19 nur noch wenige Monate zu leben hätten. Zum anderen fehlten anfangs die Tests, um eine Infektion nachzuweisen, später wurde aus finanziellen Gründen in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich häufig getestet.
Die Übersterblichkeit hat den Vorteil, dass sie auch andere Folgen der Pandemie mit erfasst. Dazu gehören beispielsweise Todesfälle durch unterlassene Therapien im Lockdown, die die Sterberate erhöht haben könnten. Andererseits dürfte der Ausfall der saisonalen Grippeepidemie die Sterblichkeit gesenkt haben.
Fest steht, dass in Europa in den Jahren 2020 bis 2023 mehr Menschen gestorben sind als in den Jahren davor. Ein Team um Gianfranco Alicandro von der Universität Mailand hat die Daten der Human Mortality Database zu 29 europäischen Ländern ausgewertet. Nicht darunter sind Russland, Weissrussland, die Ukraine, Rumänien und Irland. Von den früheren Staaten Jugoslawiens ist nur Slowenien dabei.
Den größten Anstieg der Mortalität gab es 2020 mit 521.889 Todesfällen (oder plus 10,0 %) und 2021 mit 568.186 Todesfällen (plus 11,2 %). Auch 2022 sind noch 443.883 Menschen (plus 8,6 %) mehr gestorben als in den Jahren vor der Pandemie. Im Jahr 2023 ist die Übersterblichkeit dann auf 108.629 Todesfälle (plus 2,1 %) gesunken.
Am stärksten betroffen waren Bulgarien (17,2 %), Litauen (16,1 %) und die Slowakei (14,9 %). Am niedrigsten war die Übersterblichkeit in Schweden (2,2 %), Island (2,7 %) und Dänemark (4,0 %). In Deutschland betrug sie 5,6 % (Rang 6 nach Norwegen und Island).
In Skandinavien ist ein Vergleich zwischen den Nachbarn Dänemark und Schweden interessant. Dänemark hatte sich zum Lockdown entschlossen, Schweden setzte auf die Freiwilligkeit der Bevölkerung. Im Jahr 2020 stieg die Sterblichkeit in Dänemark um 0,3 %, in Schweden um 7,2 %. In den folgenden drei Jahren war die Mortalität in Schweden (-0,2 %, 1,6 % und 0,2 %) kaum noch erhöht. In Dänemark kam es zu einem Anstieg um 4,4 %, 7,4 % und 4,0 %).
Osteuropa war die Region mit der höchsten Übersterblichkeit (13,2 % im gesamten Zeitraum 2020-2023). In Nord-, Süd- und Westeuropa starben 6,3 % bis 7,8 % mehr Menschen als in den Jahren vor der Pandemie. Besonders groß waren die Unterschiede 2021, als die Übersterblichkeit in Osteuropa 29 % erreichte, während sie in anderen Regionen bei etwa 6 % bis 8 % blieb.
Die Ursache sieht Alicandro vor allem in wirtschaftlichen Faktoren und in der mangelnden Bereitschaft zur Impfung – wobei beide Faktoren offenbar zusammenhängen. Alicandro ermittelt eine lineare inverse Korrelation zwischen dem Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt und der Übersterblichkeit: Je weniger ein Land in das Gesundheitswesen investiert, desto mehr Menschen sterben im Fall einer Pandemie.
Noch steiler war die Korrelation bei der Impfquote: In Bulgarien starben auch deshalb mehr Menschen, weil kaum gegen COVID-19 geimpft wurde. Die Impfquote lag Ende 2021 bei 28 % (gegenüber 83 % in Portugal). Auch Ende 2022 waren in Bulgarien (und der Slowakei) weniger als die Hälfte der Erwachsenen geimpft.
Auch eine geringe gesamtwirtschaftliche Leistung (Bruttosozialprodukt pro Einwohner) und eine hohe Ungleichverteilung der Einkommen (Gini-Index) korrelierten mit einer hohen Übersterblichkeit (beim Gini-Index gab es eine U-Kurve mit einem Anstieg an beiden Enden der Ungleichverteilung).
Bei der Stringenz von Lockdown und sozialer Distanzierung (nichtpharmakologische Maßnahmen) ermittelt Alicandro nur für das Jahr 2020 eine Korrelation, sie war 2021 und 2022 nicht mehr vorhanden. Alicandro differenziert allerdings nicht zwischen den einzelnen Maßnahmen.
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