Intensivmediziner in Bergamo: „Coronavirus ist das Ebolavirus der Reichen“

Bergamo/Italien − Die Situation in Bergamo, einer 120.000-Einwohner-Stadt in der wohlhabenden Lombardei, ist in den letzten Tagen völlig außer Kontrolle geraten. Intensivmediziner einer größeren Klinik warnen in NEJM Catalyst (2020; DOI: 10.1056/CAT.20.0080), dass die Katastrophe jede andere Stadt in Europa und Amerika treffen könne. Die heutige patientenzentrierte Versorgung sei auf Pandemien wie COVID-19 einfach nicht vorbereitet.
In den Medien war in den letzten Tagen zu sehen, wie in den Abendstunden Särge aus Bergamo in andere Regionen zur Kremation gefahren wurden, da die Stadt nicht über die notwendigen Kapazitäten verfügt. Viele der abtransportierten Leichname dürften aus der städtischen Klinik „Papa Giovanni XXIII“ kommen. Dort sind derzeit 300 der 900 Betten mit COVID-19-Patienten belegt, 70 % der Intensivbetten sind für die schwerkranken COVID-19-Patienten reserviert.
Dennoch könne von einer normalen Versorgung nicht mehr die Rede sein, schreiben Mirco Nacoti und Mitarbeiter. Die Intensivmediziner bezeichnen die Situation als „düster“, eine Krankenversorgung auf normalem Niveau sei derzeit nicht möglich. Es gebe stundenlange Wartezeiten für ein Intensivbett. Ältere Patienten könnten nicht wiederbelebt werden und müssten ohne angemessene Palliativversorgung allein sterben, während die Familie nur einen kurzen telefonischen Hinweis erhalte von einem Arzt, der am Rand seiner körperlichen und emotionalen Kräfte stehe.
Die Situation in der Umgebung ist nach Einschätzung von Nacoti noch schlimmer. Die meisten anderen Krankenhäuser seien überfüllt und stünden kurz vor dem Kollaps, während es an Medikamenten, Beatmungsgeräten, Sauerstoff und persönlichen Schutzausrüstungen fehle. Die Patienten müssten teilweise auf Bodenmatratzen gelagert werden. Das Gesundheitssystem habe Schwierigkeiten, grundlegende Dienstleistungen wie etwa die Geburtshilfe zu erbringen.
In den Krankenhäusern würden Ärzte und Pflegepersonal verzweifelt versuchen, den Betrieb aufrecht zu erhalten. Außerhalb der Krankenhäuser würde die Gesundheitsvorsorge völlig vernachlässigt. Impfprogramme wurden gestoppt und in den Gefängnissen sei die Situation wegen der nicht möglichen „sozialen Distanz“ explosiv.
Nacoti und seine Kollegen unternehmen mitten in der Krise einen ersten Analyseversuch. Das Problem bestehe darin, dass die westlichen Gesundheitssysteme auf dem Konzept einer zentralisierten Patientenversorgung basierten, die auf Epidemien nicht vorbereitet sei. Im aktuellen Fall wurden alle Schwerkranken zunächst mit Rettungswagen in die Klinik transportiert, wo sie offenbar nicht strikt von den nicht-infizierten Patienten getrennt wurden.
In den Kliniken kam es dann schnell zur Übertragung der Infektion auf andere Patienten, schreibt Nacoti. Zu den Vektoren gehören auch die Rettungswagen und ihr Personal, das teilweise. asymptomatisch infiziert sei oder bei Krankheitszeichen nicht überwacht werde. Der Tod von Ärzten und Pflegepersonal, einschließlich junger Menschen, könnte dann den Stress derjenigen erhöhen, die an der Front tätig sind.
Man erfahre derzeit schmerzlich, dass es keine Experten für Public Health und für Epidemien gebe, die im Ernstfall die notwendigen Entscheidungen treffen. Notwendig sei ein Perspektivwechsel hin zu einem Konzept der gemeinschaftszentrierten Versorgung, schreibt Nacoti. Dazu sollte laut dem Intensivmediziner eine vermehrte häusliche Krankenversorgung und mobile Kliniken gehören. Dies würde unnötige Patiententransporte vermeiden und die Krankenhäuser entlasten.
Eine Sauerstofftherapie und eine Überwachung mit Pulsoxymetrie sind laut Nacoti auch zuhause möglich. Die Patienten könnten telemedizinisch betreut werden. Sie sollten zuhause isoliert und dort mit Nahrungsmitteln versorgt werden, bis sie sich erholt haben. Die Kliniken könnten sich dann auf die Behandlung der schwersten Fälle konzentrieren. Das Ansteckungsrisiko anderer Patienten und des Personals werde vermindert und der Verbrauch an Schutzausrüstung minimiert.
Der Schutz des medizinischen Personals müsse Vorrang haben. Hier dürften keine Kompromisse eingegangen werden. Die nötige Ausrüstung müsse jederzeit verfügbar sein. Wichtig sei, dass Infektionen an den Kliniken und eine Kontamination der Fahrzeuge verhindert werden. In den Kliniken müssten spezielle Abteilungen geschaffen werden, in denen im Fall einer Pandemie Patienten räumlich und personell getrennt versorgt werden können.
Der derzeitige COVID-19-Ausbruch ist nach Ansicht von Nacoti nicht allein intensivmedizinisch zu beherrschen. Sozialwissenschaftler, Epidemiologen, Logistikexperten, Psychologen und Sozialarbeiter müssten einbezogen werden, um im Fall einer Epidemie die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Diese bestehen in erster Linie in einer sozialen Distanz. Ein Lockdown sei die wichtigste Maßnahme. Dies habe in China die Übertragung um etwa 60 % reduziert. Die Maßnahmen dürften nicht zu früh gelockert werden, da es sonst zu einer weiteren Erkrankungswelle komme.
Notwendig sei ein langfristiger Plan für die nächste Pandemie. Das Coronavirus ist laut Nacoti das „Ebola der Reichen“. Es sei zwar nicht besonders tödlich, aber sehr ansteckend. Je mehr die Gesellschaft medizinalisiert und zentralisiert sei, desto größer sei das Risiko, dass sich ein Virus ausbreite.
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