Medizin

SARS-CoV-2: Aerosole haben Virus auf „Diamond Princess“ über größere Distanzen verbreitet

  • Montag, 3. August 2020
/Andy Dean, stock.adobe.com
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Boston – Die Übertragung von SARS-CoV-2 durch Aerosole war möglicherweise daran beteiligt, dass die Epidemie auf dem Kreuzfahrtschiff „Diamond Princess“ nach dem Beginn der Quarantäne nur langsam gestoppt werden konnte. Zu dieser Einschätzung kommt ein Forscherteam aufgrund von mathematischen Berechnungen in
medRxiv (2020; DOI: 10.1101/2020.07.13.20153049).

Der Ausbruch auf dem Kreuzfahrtschiff „Diamond Princess“ hat im Kleinen gezeigt, was später viele Länder im Großen erleben mussten. Ein einzelner Infizierter kann innerhalb kurzer Zeit eine Infektionskette auslösen, die sich dann nur schwer stoppen lässt. Bei der „Diamond Princess“ wurde der Index-Patient nachträglich als ein Passagier ermittelt, der am 20. Januar an Board gegangen war. Als er am 25. Januar das Schiff verließ, hatte er die Viren an andere Personen weitergegeben.

Die erste Erkrankung wurde am 1. Februar bemerkt. Als am 4. Februar 10 Personen erkrankt waren, wurde tags darauf eine Quarantäne für die Passagiere verfügt. Die 3.711 Personen durften ihre Kabinen nicht mehr verlassen – nur einige mit fensterloser Kabine durften täglich für kurze Zeit ins Freie. Die Maßnahme kam jedoch zu spät, um die Epidemie noch zu stoppen.

In den folgenden 20 Tagen wurden 712 der 3.711 Personen (2.666 Passagiere und 1.045 Personen des Bordpersonals) positiv getestet, bei weiteren 57 Personen wurde nach dem vorzeitigen Ende der Kreuzfahrt eine Infektion mit SARS-CoV-2 festgestellt.

Die genau dokumentierte Epidemie hat sich zu einer wichtigen Quelle für die Forschung entwickelt. Ein Team um Joseph Allen von der Harvard T.H. Chan School of Public Health in Boston hat jetzt versucht, den Anteil der verschiedenen Übertragungswege der Infektionen am Computer nachzustellen.

Die Forscher bedienten sich dabei eines einfachen Modells, das die Mathematiker Lowell Reed and Wade Frost in den 1920er Jahren entwickelt hatten, um die Ausbreitung von Krankheitserregern zu beschreiben. Um trotz fehlender Informationen zu einem Ergebnis zu kommen, benutzten sie eine von Andrei Markow entwickelte Methode.

Die Forscher fütterten den Rechner mit einer Vielzahl von Informationen. Sie reichten von den Bauplänen des Schiffes über die Ventilation bis zur Atmung der Passagiere, die nach einer von vielen Annahmen der Studie pro Tag 15,7 m3 Luft ein- und wieder ausatmeten.

Die Forscher schätzten, dass die Passagiere vor der Quarantäne pro Tag 9 Stunden in ihrer Kabine verbrachten. Während der Quarantäne waren es dann 24 Stunden mit Ausnahme der Passagiere in den fensterlosen Kabinen. Diese durften täglich für 1 Stunde an die frische Luft. Der Kontakt mit dem Personal war auf geschätzte 15 Minuten am Tag beschränkt. Diese Annahme beruhte auf den Kontaktzeiten der Patienten mit den Pflegepersonal in Krankenhäusern.

In Studien zu anderen Krankheitserregern haben die Forscher die Wahrscheinlichkeit einer Übertagung durch die Berührung von porösen (0,3 %) und nicht porösen Oberflächen (37 %) recherchiert. In die Berechnungen flossen auch Annahmen über Tröpfchen und Aerosolen in den Atemluft ein, wobei erstere nach wenigen Metern zu Boden sinken, während die kleineren Aerosole über längere Zeit in der Luft schweben und dabei längere Strecken zurücklegen können.

Andere wichtige Eigenschaften des Virus sind nicht genau bekannt. Dazu gehören einige epidemiologische Kerndaten wie die Inkubationszeit, die Dauer der Ansteckungsfähigkeit und bei dem Ausbruch auf der „Diamond Princess“ die Reproduktionszeit des Index-Falls. Auch einige Faktoren der „mechanischen Übertragung“ waren unklar.

Dies waren die Anteile der von symptomatischen und asymptomatischen Personen übertragenen Viren, das Verhältnis von Aerosolen zu Tröpfchen in der Atemluft, die minimale Kontaktzeit in den Kabinen, die Effektivität der Quarantäne und die infektiösen Dosen in den oberen und unteren Atemwegen.

Für die fehlenden Daten machten die Forscher dem Rechner mehrere Vorgaben. Insgesamt ließen sie 21.600 Szenarien durchrechnen. Die Ergebnisse verglichen sie dann mit dem tatsächlichen Verlauf der Epidemie. Die 132 Modelle, die die Wirklichkeit am besten simuliert hatten, basierten auf einem relativ hohen Anteil von aerogenen Übertra­gungen, der bei etwa 70 % lag. Das ist wesentlich höher als bisher angenommen. Etwa 40 % der Übertragungen könnten nach den Berechnungen über längere Distanzen erfolgt sein.

Der Anteil der Infektionen mit Aerosolen und über längere Distanzen wäre den Berechnungen zufolge höher als bisher angenommen. Die Weltgesundheitsorganisation ging bisher davon aus, das Aerosole eine untergeordnete Rolle bei der Übertragung von SARS-CoV-2 haben. Die jetzigen Studienergebnisse stellen diese Einschätzung infrage.

Zu bedenken ist allerdings, dass es sich um das Ergebnis komplexer Berechnungen handelt, die auf einer Vielzahl von Annahmen beruhen, die nicht unbedingt zutreffen müssen. Die Ausbreitung auf einem Kreuzfahrtschiff ist möglicherweise doch kein geeignetes Modell, um eine globale Epidemie zu verstehen.

rme

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