Medizin

Studie: SARS-CoV-2 kann chronisches Fatigue-Syndrom auslösen

  • Mittwoch, 31. August 2022
/Fatigue, stock.adobe.com
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Berlin – Eine myalgische Encephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS), in der Öffentlichkeit auch als chronisches Erschöpfungssyndrom bekannt, kann auch nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 auftre­ten. Davon sind Experten der Berliner Charité überzeugt.

In Nature Communications (2022; DOI: 10.1038/s41467-022-32507-6) stellen sie 42 Patienten vor, die sich trotz einer meist leichten Erkrankung an COVID-19 nur mühsam erholten und teilweise die geltenden Krite­rien des ME/CFS erfüllten.

Das ME/CFS ist gekennzeichnet durch eine lähmende Müdigkeit, die nur sehr begrenzte körperliche Aktivitä­ten zulässt. Die Patienten leiden außerdem unter Schlafstörungen und Muskelschmerzen. Die Konsensus-Kri­te­rien, die 2003 von „Health Canada“ festgelegt wurden, fordern außerdem, dass 2 oder mehr neurologi­sche oder kognitive Symptome vorliegen müssen, wobei ein Symptom entweder das autonome Nervensystem, das neuroendokrine System oder das Immunsystem betreffen muss. Die Symptome müssen zudem seit mindes­tens 6 Monaten bestehen.

Typisch für ein ME/CFS ist, dass sich die Patienten an eine vorangegangene Infektion als Auslöser erinnern können. Häufig ist dies ein viraler Infekt. Es war deshalb nicht überraschend, dass sich nach der ersten Welle der Pandemie im Sommer 2020 auch COVID-19-Patienten an das Charité Fatigue Centrum wandten, das das Krankheitsbild ME/CFS erforscht.

Ein Team um Carmen Scheibenbogen, die das Behandlungszentrum leitet, stellt die Daten von 42 Patienten vor, von denen 19 die Kriterien eines ME/CFS erfüllten, bei den übrigen 23 Patienten fehlten einzelne Kom­ponenten der kanadischen Konsensus-Kriterien.

Auffallend war, dass die wenigsten der 42 Patienten schwer an COVID-19 erkrankt waren. Nach der WHO-Klassifizierung hatten 32 Patienten einen milden COVID-19-Verlauf und 10 einen mittelschweren Verlauf mit Pneumonie. Nur 3 Patienten mussten in einem Krankenhaus behandelt werden, keiner benötigte eine Sauer­stoffgabe.

Trotz der günstigen Voraussetzungen hatten sich die Patienten auch nach 6 Monaten noch nicht erholt. Sie litten weiterhin unter einer körperlichen Schwäche. In der „Bell scale“, die die allgemeinen Beeinträchtigung von 100 bis 0 Punkten bewertet (eine höhere Punktzahl gibt eine geringere Beeinträchtigung an), gaben die 19 Patienten, die die ME/CFS-Kriterien erfüllten, einen Wert von 40 an.

Ihr Zustand war damit besser als in einer Kontrollgruppe mit ME/CFS nach anderen Infektionen, wo der „Bell-Score“ bei 30 lag. Ein Wert von 30 bis 40 bedeutet, dass die Patienten an 2 bis 4 Stunden am Tag leichte Ar­beiten verrichten können, was allenfalls mit einer Teilzeitbeschäftigung vereinbar ist. Bei einem „Bell-Score“ von 20 oder weniger wären die Patienten fast den ganzen Tag bettlägerig.

Den 23 Patienten, die nicht alle ME/CFS-Kriterien erfüllten, ging es etwas besser. Mit einem „Bell-Score“ von 50 hatten sie etwa 70 % des normalen Gesamtaktivitätsniveaus erreicht. Auch im Fragebogen zur Lebensqua­lität waren die Einschränkungen etwas geringer als beim Vollbild ME/CFS, ebenso in der „Chalder Fatigue-Scale“, die das Kardinalsymptom der Erkrankung erfragt.

Im „Composite Autonomic Symptom Score 31“, der orthostatische Intoleranz, vasomotorische, sekretomotori­sche, gastrointestinale, Blasen- und pupillomotorische Funktionen erfasst, wurden bei der Mehrzahl der Be­troffenen Störungen gefunden. Bei 6 Teilnehmern wurde eine orthostatische Hypotension, also ein zu starker Abfall des Blutdrucks nach dem Aufrichten aus liegender Position gefunden. Die Griffstärke, die mit einem Handkraftmesser erfasst wird, war ebenfalls vermindert.

Die Ursachen des ME/CFS sind nicht bekannt. Die Vermutungen reichen von einer anhaltenden entzündlichen Reaktion bis zu einer Autoimmunerkrankung, bei der Antikörper, die eigentlich den Erreger neutralisieren sollten, körpereigene Strukturen angreifen.

Auch bei den Post-COVID-Patienten lieben die Ursachen im Dunklen. Das Forscherteam fand jedoch einzelne Hinweise. Auffällig war, dass bei den Patienten, die das Vollbild ME/CFS hatten, die Handkraft mit Hämoglo­bin, vermindertem NT-proBNP, Bilirubin und Ferritin korrelierte, was auf eine Funktionsstörung der Endothe­lien und Minderdurchblutung als Ursache der schnellen Muskelermüdung hinweist.

Bei den Patienten, die nicht alle ME/CFS-Kriterien erfüllten, korrelierte die Handkraft mit Hämoglobin, C-reaktivem Protein und Interleukin 8, was eher auf eine entzündliche Komponente hinweist. Nach vorläufigen Beobachtungen könnte sich die Unterscheidung der beiden Gruppen auch im Krankheitsverlauf widerspie­geln. Bei vielen Menschen, die nicht das Vollbild von ME/CFS erreichen, scheinen sich die Beschwerden lang­fristig zu verbessern, berichtet Prof. Scheibenbogen.

Als Fallserie von Patienten, die sich aus eigenem Antrieb an das Charité Fatigue Centrum gewandt hatten, erlaubt die Studie keine Aussagen über die Häufigkeit der Komplikation. Diese Frage soll in einer laufenden Kohortenstudie geklärt werden, die derzeit 300 zufällig ausgewählte Patienten mit positivem SARS-CoV-2-PCR-Test begleitet.

rme

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