Studie: Tübinger Modellprojekt hat zu mehr Ansteckungen mit SARS-CoV-2 geführt

Mainz – Die Zahl der Infektionen mit SARS-CoV-2 sind in der Universitätsstadt Tübingen nach dem Beginn von „Öffnen mit Sicherheit“ stärker gestiegen als in 2 vergleichbaren Städten sowie 2 Landkreisen von Baden-Württemberg.
Zu diesem Ergebnis kommt eine wissenschaftliche Begleituntersuchung in medRxiv (2021; DOI: 10.1101/2021.04.26.21256094). Der stärkere Anstieg der Infektionen konnte nur teilweise auf die Zunahme der Tests zurückgeführt werden.
Die Stadt Tübingen hatte ihr Modellprojekt am 16. März begonnen und den Lockdown gelockert. Einwohner, die in einer Teststation der Innenstadt mit einem Antigentest negativ getestet wurden, durften am gleichen Tag Geschäfte des Einzelhandels betreten. Die Außengastronomie stand ihnen ebenfalls offen. Auch körpernahe Dienstleistungen, etwa ein Frisörbesuch, waren gestattet, und am Abend durften sie nach Vorzeigen ihres negativen Testergebnisses ins Kino gehen oder an anderen Kulturveranstaltungen teilnehmen.
Die Ausgangssituation war günstig. Die 7-Tage-Inzidenz lag vor Beginn des Projekts bei unter 50/100.000. Es gab deshalb in den Teststationen nur wenige positive Testergebnisse: In der ersten Woche (15. bis 21. März) wurden 45 Infektionen entdeckt, in den kommenden Wochen waren es 39 (22. bis 28. März), 29 (29. März bis 4. April) und 30 (5. bis 11. April) Infektionen.
Gleichzeitig stieg jedoch die 7-Tage-Inzidenz in der Stadt bis auf 144 am Osterwochenende an. Die Stadt reagierte mit dem Schließen der Außengastronomie. Die steigenden Zahlen allein sind natürlich noch kein Beweis dafür, dass die Freizügigkeit das Infektionsrisiko in der Stadt erhöht hat. Das Land Baden-Württemberg befand sich wie ganz Deutschland auf dem aufsteigenden Ast der 3. Welle.
Das Team um Klaus Wälde von der Universität Mainz hat deshalb die Zahlen in Tübingen mit 2 ähnlichen Städten verglichen. Die Orte wurden mit einer „synthetic control method“ ermittelt. Die Wahl fiel nicht zufällig auf Heidelberg und Freiburg im Breisgau, die ebenfalls Universitätsstädte mit einer vergleichbaren Einwohnerzahl sind. Mit einer geringeren Gewichtung wurden auch die Landkreise Enzkreis und Heilbronn in die synthetische Kontrolle einbezogen.
Der Vergleich ergab, dass die Infektionszahlen in Tübingen stärker angestiegen waren als in der synthetischen Kontrolle. Die Differenz setzte passend zur Inkubationszeit von SARS-CoV-2 mit einer Verzögerung von etwa 1 Woche ein und erreichte ihr Maximum am Osterwochenende. Anfang April war die 7-Tage-Inzidenz in Tübingen um 46/100.000 höher als in der synthetischen Kontrolle.
Ein Teil des Anstiegs war auf eine Zunahme der Testaktivität durch die Aktion „Öffnen mit Sicherheit“ zurückzuführen. Die Forscher haben versucht, ihn mathematisch zu eliminieren. Der Unterschied in der 7-Tage-Inzidenz sank von 46/100.000 auf etwa 33/100.000 Punkte. Diese Zahl könnte die Schubwirkung beschreiben, die die teilweise Öffnung von Geschäften, kulturnahen Einrichtungen und Kulturveranstaltungen auf die Epidemie ausgeübt hat.
Interessanterweise hat sich die Differenz zwischen Tübingen und der synthetischen Kontrolle nach Ostern wieder vermindert. Ob dies auf die Schließung der Außengastronomie zurückzuführen ist, kann die Studie nicht eindeutig klären. Der Rückgang setzte ohne die durch die Inkubationszeit bedingte Latenz ein. Außerdem wurde die Datenerhebung am 13. April geschlossen.
Das Ende des Tübinger Modellprojekts kam am 23. April mit Inkrafttreten der gesetzlichen „Bundesnotbremse“. Die 7-Tage-Inzidenz lag zu diesem Zeitpunkt im Kreis Tübingen bei 181,5/100.000 und damit weit über der 100er-Grenze, die einschneidende Maßnahmen erforderlich macht.
Dass die 7-Tage-Inzidenz in der Stadt an diesem Tag bei 91,8/100.000 und damit unter der 100er-Grenze lag, spielte keine Rolle, da für die Maßnahmen die Entwicklung in den Landkreisen maßgeblich ist.
Diskutieren Sie mit
Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.
Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.
Diskutieren Sie mit: