Medizin

Thrombolyse bei Hirninfarkt offenbar trotz NOAK-Vorbehandlung sicher und machbar

  • Mittwoch, 4. Januar 2023
/7activestudio, stock.adobe.com
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Berlin – Eine akute Lysetherapie bei ischämischem Schlaganfall ist selbst unter einer Antikoagulationsvor­behandlung mit NOAK nicht zwingend mit einem erhöhten Blutungsrisiko ver­bunden. Dies geht aus einer aktuell veröffentlichten, internationalen Studie aus JAMA Neurology (DOI: 10.1001/jamaneurol.2022.4782) hervor, die unter Federführung des Inselspitals Bern und des Universitätsklinikums Heidelberg zustande kam.

Bei einem ischämischen Schlaganfall ist die akute intravenöse Thrombolysetherapie an sich der Standard, um den zerebralen Gefäßverschluss so rasch wie möglich wieder durchgängig zu machen.

Eine Therapie mit nicht Vitamin-K-abhängigen oder direkten oralen Antikoagulantien (NOAK oder DOAK wer­den synonym gebraucht) in den letzten 48 Stunden vor Symptombeginn stellt dabei jedoch bisher eine Kon­tra­indikation dar. Der Hintergrund ist die Befürchtung, dass man mit solch einer Kombination das Blutungs­risiko deutlich erhöhen könnte.

Dieses Dilemma tritt immer häufiger auf, denn zunehmend mehr Patienten werden mit NOAK behandelt – etwa bei Vorhofflimmern zur Prophylaxe von Schlaganfällen oder zur Prävention und Therapie von Thrombo­sen und Lungenembolien. Nun zeigt eine aktuelle Studie, dass man zur Therapie eines ischämischen Schlaganfalles dieser Gruppe von Patienten eine Lysetherapie nicht vorenthalten sollte.

Kein höheres Blutungsrisiko

Eine internationale Forscherallianz aus der Universitätsklinik in Heidelberg, dem Inselspital in Bern und aus Christchurch in Neuseeland haben die Daten von 33.207 Patienten aus 64 Schlaganfallabteilungen in verschie­denen Kliniken in Europa, Asien, Australien und Neuseeland ausgewertet und können Entwarnung geben.

„Im Gegenteil, wir sahen, dass bei den 832 Patienten unter NOAK das Blutungsrisiko sogar geringer war im Vergleich zu jenen, die nicht antikoaguliert waren“, sagte Thomas Meinel, Oberarzt an der Neurologischen Klinik am Universitätsspital Bern und Erstautor der Studie.

Im Vergleich betrug die adjustierte Odds-Ratio (OR) 0,57 (95-%-Konfidenz-Intervall [KI] 0,36–0,92). Die Daten wurden zunächst bei dem weltweit größten Schlaganfallkongress der European Stroke Organisation (ESOC) präsentiert und sind nun umfänglich in der Fachzeitschrift JAMA-Neurology veröffentlicht worden.

In diese Studie gingen Patienten ein, deren letzte NOAK-Einnahme 48 Stunden oder kürzere Zeit vor dem Hirn­infarkt zurücklag. Die retrospektive Auswertung bezog sich auf die Jahre 2008-2021 mit einem 3-monatigen Follow-up.

Als wichtigstes Resultat wurde eine symptomatische intrakranielle Blutung innerhalb von 36 Stunden nach intravenöser Thrombolyse zugrunde gelegt. 252 von 832 (30 %) Teilnehmenden aus der NOAK-Kohorte hatten ein Antidot (ausschließlich gegen Dabigatran) erhalten, bei 225 (27 %) war der NOAK-Spiegel bestimmt wor­den und 355 (43 %) sind ohne eine solche Messung lysiert worden.

Die (nicht adjustierte) Hämorrhagierate betrug unter NOAK 2,5 % (95-%-KI 1,6–3,85 %) und 4,1 % (3,9–4,4 %) in der Kontrollgruppe. Selbst in den Subgruppenanalysen derjenigen, die aufgrund gängiger Stratifizierung ein hohes Blutungsrisiko hätten haben können – beispielsweise aufgrund hoher NOAK-Spiegel – waren die Blu­tungsraten niedrig.

„Das spricht für die Robustheit und Konsistenz der Analyse“, hält Meinel gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt fest.Frühere Studien und Metaanalysen ließen schon vermuten, dass man Patienten unter NOAK eine Lyse nicht vorenthalten sollte. Allerdings waren darin entweder die Fallzahlen zu gering oder es waren zu wenig Teilnehmende mit hohen NOAK-Spiegeln oder mit einer NOAK-Einnahme in den letzten 48 h eingeschlossen worden.

Häufiges Dilemma in der Stroke-Unit

Das akuttherapeutische Dilemma einer Thrombolyse-Indikation bei akutem Schlaganfall unter NOAK-Antiko­agulation ist keineswegs selten, wie Waltraud Pfeilschifter, Chefärztin der Klinik für Neurologie und Klinische Neurophysiologie des Klinikums Lüneburg, betont.

Aus einer populationsbasierten Untersuchung von Daten des hessischen Schlaganfallregisters von 2012 bis 2015 geht hervor, dass 13 % der Patienten, die innerhalb von 4 Stunden die Klinik erreichen, nach Einschät­zung der behandelnden Ärzte zum Zeitpunkt der Aufnahme antikoaguliert waren. „Die Frage zum Umgang mit einer Antikoagulation stellt sich in etwa bei jeder 10. Therapieentscheidung über eine Thrombolyse-Therapie“, erklärte die Chefärztin.

Ying Xian, leitender Arzt der Abteilung für Neurologie am UT Southwestern Medical Center, in Dallas/Texas, schätzt, dass allein in den USA jährlich bis zu 10.000 Schlaganfallpatienten unter NOAK für einer Lyse infrage kämen. Da es nahezu unmöglich sei, eine randomisiert-kontrollierte Studie zu dieser Fragestellung umzuset­zen, stellten die Ergebnisse der aktuellen Studie zusammen mit denen des US-amerikanischen Schlagan­fall­re­gisters die „beste derzeit verfügbare Evidenz“ dar, so Xian.

Allerdings würde, gehe man von Beobachtungen in den USA aus, derzeit rund 10 von 11 Schlaganfall­patienten unter NOAK eine Lyse vorenthalten. Das könne bedeuten, dass sie dauerhaft mit einer neurologischen Beein­trächtigung leben müssen, die mithilfe der Lyse vermeidbar gewesen wäre. „Für mich besteht das tatsächliche Risiko darin, nicht zu behandeln“, so lautet das Fazit des Neurologen.

Für Stefan Kiechl, Direktor der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck, bestätigt die jüngste Studie zum einen, dass Patienten unter Vitamin-K-Antagonisten und einem INR < 1,7 ein deutlich erhöhtes Blutungsrisiko haben (5 %).

„Entsprechend sollten Vitamin-K-Antagonisten bei Schlaganfallpatientinnen und -patienten nur mehr in Aus­nahmesituationen verwendet werden – beispielsweise bei jenen mit künstlichen Herzklappen“, erläuterte der Chefarzt.

Zum anderen zeige die aktuelle Studie, dass nach Antagonisierung (mit Idarucizumab bei Dabigatran-Therapie) ein sehr geringes Blutungsrisiko bestehe und die Lysetherapie zu einem guten Outcome führe. „Diese wertvolle Information sollte auch in den Guidelines erwähnt werden“, fordert Kiechl.

Erkenntnisse für die Praxis

Dass die neuen Beobachtungen für sich genommen schon zu einer veränderten Empfehlung in den einschlägi­gen Leitlinien führen werden, sehen die Kommentatoren noch nicht als zwingend gegeben.

Kiechl merkt an, dass es sich bei der aktuellen Studie offenbar um ein selektioniertes Patientengut gehandelt habe, da letztlich nur jeder 10. der NOAK-Patienten einer Thrombolyse zugeführt worden sei. Insofern bedürfe es weiterer Informationen in Bezug auf die stärker Gefährdeten, hielt er fest.

Jan Purrucker, Neurologe an der Universitätsklinik in Heidelberg und einer der Koordinatoren der Studie, räumt ebenfalls ein, es handele sich um ein hochselektioniertes Patientengut, denn „nur in Zentren mit entsprechen­der Expertise wird derzeit eine Lysetherapie bei NOAK-Vorbehandlung angeboten“, kommentierte er diese Einschränkung bereits auf dem auf dem ESOC-Kongress.

Allerdings wurden in der Studie unterschiedliche Selektionsstrategien geprüft, etwa Lyse bei niedrigen NOAK-Blutspiegel, Neutralisierung der NOAK mittels Antidots, aber auch lediglich unspezifische Gerinnungstests. Dies berücksichtigt immerhin verschiedene Patientengruppen und hatte gezeigt, dass diese ein vergleichbares Blutungsrisiko hatten.

Daher schlussfolgert auch David Seiffge, ein weiterer Studienkoordinator aus der Neurologischen Klinik am Inselspital in Bern: „Wir haben keine Signale für erhöhte Blutungsraten in den Subgruppen gesehen, die Resul­tate sind für den Einsatz der intravenösen Thrombolyse für NOAK-Patientinnen und Patienten beruhigend“, lau­tete sein Fazit bei der Präsentation der Daten im letzten Jahr.

Pfeilschifter fordert vor allem eine verlässliche Möglichkeit für eine bessere Risikostratifizierung: „Dringend benötigt werden Testverfahren für eine zuverlässige, kostengünstige und einfach einsetzbare Bestimmung der NOAK-Blutspiegel“, so die Neurologin.

Das könnte insbesondere helfen, jene Patienten zu identifizieren, die ohne Lyse alltagsrelevante Behinderun­gen zu erwarten haben, und denen nicht mittels einer Thrombektomie geholfen werden kann, weil sich die Art des Gefäßverschlusses nicht dafür eigne.

Während in Sachen Lyse unter NOAKs derzeit noch große Vorsicht herrscht, sollten schon jetzt alle Patienten mit einem Großgefäßverschluss eine endovaskuläre Therapie erhalten – „unabhängig davon, ob sie antikoagu­liert sind oder nicht“, hält Pfeilschifter fest. Aus dem deutschen Thrombektomieregister GSR-ET gehe unter an­derem hervor, dass dies nicht zu einer erhöhten Rate sekundärer Einblutungen führe.

mls

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