COVID-19: Erste Bundesländer rufen Katastrophenfall aus

München/Potsdam/Köln/Dresden/Berlin – Während die Zahl der schwer kranken COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen Deutschlands weiter ansteigt, stellen immer mehr Bundesländer die Koordination der COVID-19-Versorgung um. So hat die bayerische Staatsregierung vorgestern den Katastrophenfall ausgerufen und gestern die Allgemeinverfügung des Freistaats entsprechend angepasst.
„Kernstücke sind die Einbeziehung der Ärztlichen Leiter Krankenhauskoordinierung in die Struktur des Katastrophenschutzes und damit die Herstellung einer straffen Organisationsstruktur mit klaren Weisungsketten sowie eine Erweiterung der Befugnisse der Ärztlichen Leiter“, erklärte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU).
„So können diese etwa den vorübergehenden Einsatz von Personal einer Einrichtung in einer anderen Einrichtung anordnen oder Krankenhäusern die Durchführung aufschiebbarer Behandlungen untersagen, damit diese mit ihren Kapazitäten vorrangig zur Versorgung von COVID-19-Patitenten herangezogen werden können.“
Die bayerische Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) ergänzte: „Für die Zeit der Krise gilt eine weitreichende Kooperationspflicht. Krankenhäuser, die zunächst nicht vorrangig mit der Behandlung von Coronafällen betraut werden, müssen die anderen Krankenhäuser mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entlasten. Das bedeutet in erster Linie, dass Patienten übernommen werden. Es kann aber auch darum gehen, mit Personal oder Ausstattung zu helfen.“ Diese Notfallvorgaben galten in Bayern schon zwischen März und Juni 2020.
Katastrophenfall in Brandenburg
In Brandenburg hat das Gesundheitsministerium die Landkreise und kreisfreien Städte darüber informiert, dass sie die derzeitige Lage mit einem Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten (MANV-E) gleichsetze.
Dadurch wird eine abgestimmte Zusammenarbeit des Rettungsdienstes insbesondere mit den Feuerwehren, den Katastrophenschutzeinheiten und -einrichtungen, den Krankenhäusern und den im Zivil- und Katastrophenschutz mitwirkenden Hilfsorganisationen gewährleistet. Die integrierten Regionalleitstellen erhalten dabei mehr Möglichkeiten der Steuerung bei der Verlegung von Patienten in ein geeignetes Krankenhaus.
Die medizinische Führung und Koordination des MANV-Einsatzes obliegt nun der notärztlichen Leitung der jeweiligen integrierten Regionalleitstelle in den fünf brandenburgischen Versorgungsregionen. Die notärztliche Leitung hat unter anderem die Aufgabe, die medizinische Lage zu beurteilen und die notfallmedizinische Versorgung, die Transportmittel und die Transportziele festzulegen. Die notärztliche Leitung entscheidet zudem in Zusammenarbeit mit der zentralen Koordinierungsstelle der Krankenhäuser über die Ausnutzung der erforderlichen Krankenhauskapazitäten.
Rehakliniken übernehmen leichtere Fälle
Darüber hinaus sollen die 24 brandenburgischen Rehakliniken bei Bedarf leichtere und mittelschwere Nicht-COVID-Fälle aufnehmen, damit die Krankenhäuser mehr schwere und schwerste Fälle sowie Coronainfizierte versorgen können.
Bereits zuvor hatten sich die Krankenhäuser in Brandenburg in fünf Versorgungsregionen zu regionalen Coronanetzwerken zusammengeschlossen, um sich gegenseitig zu unterstützen. wie Brandenburgs Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) erklärte. Dieses Modell habe sich bewährt.
Noch keine überregionale Verlegung
Bund und Länder haben zusammen mit Intensivmedizinern ein sogenanntes Kleeblattkonzept abgestimmt, über das schwer kranke COVID-19-Patienten aus vom Infektionsgeschehen stark betroffenen Regionen in weniger betroffene Regionen in Deutschland verlegt werden können.
„Dieses Konzept muss von den Bundesländern aktiviert werden“, erklärte der Sprecher des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Christian Karagiannidis, dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ). „Das ist bisher noch nicht geschehen, könnte aber durchaus bevorstehen.“
Karagiannidis sagte, dass es prinzipiell noch Krankenhäuser mit Kapazitäten zur Behandlung schwer kranker COVID-19-Patienten gebe. Je nach Region sei es aber extrem mühsam, Betten zu finden. So sei es keine Seltenheit, dass man fünf bis zehn Krankenhäuser kontaktieren und um Übernahme ersuchen müsse.
Sachsen: Koordinierung in drei Regionen
Besonders angespannt ist die Lage derzeit in Sachsen. Hier wird die Versorgung schon seit einiger Zeit in drei Regionen koordiniert. „Im Freistaat Sachsen wurden speziell für die COVID-19-Pandemie Krankenhausleitstellen an den drei Krankenhäusern der Maximalversorgung – dem Klinikum Chemnitz und den Universitätskliniken Leipzig und Dresden – eingerichtet“, erklärt das Sozialministerium Sachsen dem DÄ. „Diese überwachen stetig, rund um die Uhr, die Kapazitäten der Krankenhäuser der jeweiligen Region.“
Das stetige Monitoring diene dazu, etwaige Engpässe frühzeitig zu erkennen und gegebenenfalls schnell reagieren zu können. Zeichne sich ein Engpass ab, stocke das betreffende Krankenhaus zunächst selbst die Kapazitäten auf, soweit das möglich sei. „Außerdem verschieben die Krankenhäuser planbare Leistungen, soweit das medizinisch vertretbar ist“, so das Sozialministerium. „Damit werden auch personelle Ressourcen frei.“
Den Maximalversorgern komme hier eine besondere Bedeutung zu, da diese die meisten Kapazitäten zur Verfügung stellten, insbesondere zur intensivmedizinischen Versorgung von COVID-19-Patienten.
Lage in Sachsen ist „sehr angespannt“
„Überdies verteilen die Krankenhausleitstellen – in Abstimmung mit den Krankenhäusern und Rettungsdiensten – die Patienten zielgenau auf andere, aufnahmebereite Krankenhäuser“, heißt es aus dem Sozialministerium.
„Zunächst erfolgt eine Übernahme der Patienten innerhalb des jeweiligen Clusters. Wenn dies nicht ausreicht oder aus anderen Gründen nicht die beste Lösung darstellt, kann auch eine clusterübergreifende Übernahme erfolgen. Hierzu stehen die drei Krankenhausleitstellen in enger Abstimmung untereinander, mit den jeweiligen Krankenhäusern ihres Clusters und den Rettungsdiensten.“
Das Ministerium bezeichnet die Lage in Sachsen als „sehr angespannt“. Derzeit gebe es in den drei Regionen noch 106 freie Betten zur intensivmedizinischen Versorgung von COVID-19-Patienten. Das Ministerium geht allerdings davon aus, dass die Anzahl der COVID-19-Patienten in den Krankenhäusern des Freistaates Sachsen zunächst weiter steigen wird.
Tränen in den Augen
Derweil haben die Dresdner Krankenhäuser die Bevölkerung dazu aufgerufen, sich an die Coronaschutzmaßnahmen zu halten, um die Krankenhäuser zu entlasten. „Für fast alle in den Kliniken behandelten Betroffenen ist diese Infektion eine Grenzerfahrung, genau wie für die Dresdner Kliniken“, schreiben das Krankenhaus St. Joseph-Stift, das Diakonissenkrankenhaus Dresden, das Universitätsklinikum Dresden und das Städtische Klinikum Dresden in einer gemeinsamen Presseerklärung. „Im Extremfall können sie nicht mehr für alle Patienten in der gewohnt hohen Behandlungsqualität da sein.“
„Corona ist real – jeden Tag erleben wir Patienten, die schwer krank sind; Patienten, die sterben und Pflegekräfte und Mediziner, die an ihre Grenzen gehen und Tränen in den Augen haben“, berichtet Mark Frank, Leiter des Koordinationsteams Corona und Ärztlicher Leiter der Notaufnahme am Städtischen Klinikum Dresden.
Die Dauer der Belastung sei für die Kliniken und ihre Belegschaften enorm – es gebe kaum Zeit zum Durchatmen, erklären die vier Krankenhäuser. Unter diesen Bedingungen lasse sich nicht mehr ausschließen, dass das Gesundheitssystem kollabiere.
Lage an der Charité sehr angespannt
Auch der Vorstandsvorsitzende der Berliner Charité, Heyo K. Kroemer, hat vor einer Überlastung der Krankenhäuser gewarnt. Die Lage in der Charité sei noch beherrschbar, aber sehr angespannt, sagte Kroemer gestern in den „Tagesthemen“. „Von den insgesamt 442 Intensivbetten der Charité sind 129 mit Intensivpatienten belegt, die COVID-positiv sind. Davon werden etwa 70 Prozent beatmet. Wir sind schon sehr bald an der Grenze des Machbaren. Denn diese COVID-Patienten müssen sehr intensiv pflegerisch und ärztlich betreut werden.“
Für die Versorgung der COVID-19-Patienten seien viele Ärzte und Pfleger von anderen Stationen abgezogen worden. Eine Reihe anderer Aufgaben sei dadurch nicht mehr möglich. „Wir haben etwa unser operatives Programm auf 65 Prozent der Normalzahlen herunterfahren müssen“, sagte Kroemer.
DIVI fordert „unverzügliches“ Handeln der Politik
Die DIVI appelliert vor diesem Hintergrund an die Politik, „unverzüglich“ durchgreifende Lockdownmaßnahmen zu beschließen. „30.000 Neuinfektionen am Tag, 600 Coronatote täglich, dazu das Wissen, dass selbst ein sofortiger Lockdown die Zahlen erst in zwei bis drei Wochen deutlich sinken lässt. Ein Zögern und Warten auf Weihnachten ist schier unverantwortlich“, betonte DIVI-Präsident Uwe Janssens.
Der designierte Präsident der DIVI, Gernot Marx, Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care am Universitätsklinikum Aachen, ergänzte: „Es genügt der Blick nach Belgien, Frankreich, Irland, um zu erkennen, dass harte Lockdownmaßnahmen tatsächlich in der Lage sind, die hohen Infektionszahlen zu beherrschen.“ Diese Erkenntnisse müssten genügen, um endlich nach Wochen des Zögerns durchgreifend das Virus zu bekämpfen.
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