Politik

„Der Rückgang der Fallzahlen im Krankenhaus während der Pandemie wird nicht temporär sein“

  • Dienstag, 23. Februar 2021

Berlin – Im Auftrag des vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) eingesetzten Coronabeirats, der mor­gen erneut tagt, hat der Gesundheitsökonom Reinhard Busse von der Technischen Universität Berlin ana­lysiert, wie sich die Zahl der Eingriffe in den deutschen Krankenhäusern vom Beginn der Coronapan­de­mie bis zum 30. September 2020 entwickelt hat.

Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ) erklärt Busse, ob sich die Übersterblichkeit in diesem Zeitraum auch auf Nicht-COVID-Erkrankungen ausgeweitet hat und welche Auswirkungen die Pandemie auf den Strukturwandel in der Krankenhauslandschaft haben könnte.

Reinhard Busse/ privat
Reinhard Busse/ privat

Fünf Fragen an Reinhard Busse, Technische Universität Berlin

DÄ: Herr Professor Busse, wegen der Coronapandemie mussten viele Eingriffe in den Krankenhäusern verschoben werden. Hat das zu einer Übersterblichkeit bei Nicht-COVID-Erkrankungen geführt?
Reinhard Busse: Bis zum 30. September 2020 ging die Behand­lung potenziell tödlicher Erkrankungen in den deutschen Kran­ken­häusern zurück.

So reduzierte sich die Anzahl der Aufnahmen wegen Herzinfarkten zwischen den Kalenderwochen 3 und 37 um acht Prozent. Die Behandlungsfälle mit der Hauptdiagnose Schlaganfall ging um sechs Prozent zurück und bei den Tumorbehandlungen haben wir Fallzahlrückgänge von vier Prozent bei Mammaresektionen und zwölf Prozent bei kolorektalen Resektionen gesehen.

Zu einer Übersterblichkeit bei diesen Erkrankungen hat das aber nicht geführt. Im Jahr 2020 gab es bis zum 30. September eine Übersterblichkeit von 9.000 Menschen im Vergleich zu diesem Zeitraum in den drei vorhergegangenen Jahren. Diese Zahl deckt sich mit den etwa 9.000 Patienten, die bis zum 30. September an COVID-19 verstorben sind. Insofern sehen wir in den Krankenhausdaten bis Ende September keine Hinweise auf eine Übersterblichkeit in anderen Bereich als COVID-19.

DÄ: War denn der Fallzahlrückgang bei allen Indikationen ähnlich hoch?
Busse: Nein. Der Rückgang der Fallzahlen verteilt sich nicht über alle Diagnosen gleich. Der Effekt ist stärker bei den Diagnosen, bei denen es Zweifel gibt, ob sie überhaupt im Krankenhaus behandelt werden sollten, zum Beispiel COPD, Diabetes und Herzinsuffizienz. In anderen Ländern werden diese Diagnosen auch nicht so häufig im Krankenhaus behandelt.

DÄ: Werden die Fallzahlen nach dem Ende der Pandemie wieder auf das frühere Niveau steigen?
Busse: Nein, das glaube ich nicht. Der Rückgang der Fallzahlen, den wir bis zum 30. September 2020 gesehen haben, wird nicht temporär sein. Ein Großteil des Rückgangs ist auch patientengetrieben, das heißt, die Patienten entscheiden sich dafür, nicht ins Krankenhaus zu gehen.

In Deutschland waren die Fallzahlen vor der Pandemie ja auch deutlich höher als in anderen Ländern. Da stellt sich die Frage, wie die Patienten zur stationären Behandlung ins Krankenhaus kommen. Die Anzahl der Patienten, die in die Notaufnahmen kommen, ist in Deutschland etwa so hoch wie im europä­ischen Durchschnitt. Deutlich höher ist in Deutschland allerdings der Prozentsatz der Patienten, die aus der Notaufnahme stationär aufgenommen werden. Aus meiner Sicht wäre es in jedem Fall gut, wenn die Fallzahlen nicht wieder auf das Niveau vor der Pandemie steigen würden.

Man darf ja auch nicht vergessen, dass es vielen Krankenhäusern vor der Pandemie wirtschaftlich schlecht ging. Denen wird es auch nach der Pandemie schlecht gehen. Das hat dann aber nichts mit COVID-19 zu tun. Und es macht einfach keinen Sinn, Krankenhäuser unnötig am Leben zu erhalten, die von den Patienten nicht aufgesucht werden und die auch keine gute Qualität abliefern können, weil ihnen dafür die Strukturen fehlen. Und dazu gehören viele Krankenhäuser, die keine Notaufnahmen haben.

Allerdings besteht natürlich die Gefahr, dass sich die Fallzahlen nach dem Ende der Pandemie wieder erhöhen, wenn die Politik jetzt nicht die Anreize für die Krankenhäuser ändert.

DÄ: Welche Anreize sollte die Politik aus Ihrer Sicht setzen?
Busse: Ich bin nicht der Ansicht, dass man das DRG-System abschaffen sollte. Man sollte es aber modifi­zieren, indem zum Beispiel die Notaufnahmekosten komplett pauschal vergütet werden. Der Bund könnte auch mehr qualitätsorientierte Struktur- und Prozessmerkmale in die DRG-Klassifikation aufneh­men.

Wer die Behandlung eines Herzinfarktes abrechnen will, muss beispielsweise einen Katheterplatz vor­wei­sen. Wer einen solchen nicht hat, bekommt kein Geld für die Behandlung eines Herzinfarkts. So ähnlich war es jetzt ja beim zweiten Rettungsschirm. Nur Häuser mit den Notfallstufen 2 und 3 erhalten – im ersten Schritt – Ausgleichszahlungen.

Eine Möglichkeit wäre auch, das Zweitmeinungsverfahren auszuweiten. Die Gutachter des MDK könnten zeitnah prüfen, ob es eine Indikation dafür gibt, dass ein Patient aus der Notaufnahme stationär im Krankenhaus aufgenommen wird. Dafür müssten dann natürlich sehr enge zeitliche Grenzen gelten. Patienten dürften dann nur stationär aufgenommen werden, wenn der MDK das freigegeben hat. Alle Patienten, die ambulant behandelt werden könnten, dürften dann nicht mehr stationär aufgenommen werden.

Zudem müssen die Bundesländer den Krankenhausplan besser nutzen, um festzuschreiben, welche Leis­tungen in einer Region gebraucht werden und welche nicht – und welche technischen und personellen Voraussetzungen Krankenhäuser haben müssen, um diese zu erbringen.

DÄ: Manche Kommunalpolitiker haben zusammen mit den Krankenhausträgern versucht, ein kleines Krankenhaus zu schließen, sind dann aber an den Protesten der Bürger gescheitert…
Busse: Vielfach fehlt den Kommunalpolitikern der Mut, Bürgerprotesten mit Argumenten die Stirn zu bieten. Ich habe mich im Februar 2020 mit Bürgern unterhalten, die gegen die Schließung der Klinik in Havelberg in Sachsen-Anhalt protestiert haben.

Dabei kam heraus, dass sie Angst hatten, dass sie zu wenige Rettungswagen in der Region haben. Sie wären zufrieden gewesen, wenn es in der Region einen zweiten Rettungswagen gibt. Dafür muss man aber das Krankenhaus nicht offenlassen, wenn in der Umgebung einfach zu wenige Menschen leben. Man muss dann mit den Menschen reden und zusammen eine Lösung finden.

Oder das Beispiel Lausitz. Dort wurde eine Expertenkommission für die Gründung einer Universitäts­medizin Cottbus eingerichtet. Natürlich muss dabei auch die stationäre Versorgung der Region in den Blick genommen werden. Heute ist es so, dass es dort viele kleine Krankenhäuser gibt. Die beiden einzi­gen Herzkatheter in der Region befinden sich aber in Cottbus – sogar auf einem Grundstück. So gibt es keine gute Versorgung von Herzinfarktpatienten in der Fläche.

Brandenburg hat vor kurzem sogar zugestimmt, dass in der Region in einem der kleinen Krankenhäuser Pankreaseingriffe vorgenommen werden können, bei denen die Mindestmenge ja bei zehn pro Jahr liegt. Das macht keinen Sinn. Stattdessen brauchen wir eine populationsbasierte Planung, bei der überlegt werden muss, wie die Bevölkerungsstruktur in einer Region ist und was die Menschen brauchen. Heute muss sich die Bevölkerung dem Krankenhaus anpassen. Eigentlich müsste es umgekehrt sein.

fos

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