Erneute Debatte um Inzidenz und Lockdown
Berlin – Die Politik schielt für mögliche Lockerungen als Orientierungsmarke auf einen Inzidenzwert von 50 je 100.000 Einwohner und Woche. Es wird davon ausgegangen, dass die Gesundheitsämter dann noch Infektionsketten verfolgen können und die Lage beherrschbar bleibt. Die Zahl ist nun erneut in die Diskussion geraten.
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hält den Infektionsgrenzwert von 50 für zu leichtsinnig. Der Mediziner sprach sich heute erneut für einen Grenzwert unter 25 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner und Woche aus. Auch eine Reihe internationaler Experten hat bereits einen niedrigeren Orientierungswert gefordert.
Lauterbach begründete seine Forderung mit der Gefahr weiterer Mutationen des Coronavirus, nachdem bereits aus Großbritannien eine veränderte Virusvariante nach Deutschland gekommen ist. „Wenn die Fallzahlen hoch bleiben, wird diese gefährliche Variante sich ausbreiten. Die ist so ansteckend, dass wahrscheinlich selbst unter Lockdownbedingungen wahrscheinlich zusätzliche Ansteckungen erfolgen“, erklärte er im ZDF-„Morgenmagazin“.
Die Gefahr sei, dass weitere Mutationen entstünden, gegen die die Impfungen nicht mehr wirkten. Derzeit sei dies noch nicht geschehen. Aber: „Man darf nicht mit dem Feuer spielen“, sagte Lauterbach. „Wir müssen endlich wieder die Kontrolle über die Pandemie gewinnen.“
Die Diskussion über eine Benachteiligung von Nicht-Geimpften etwa in Fluggesellschaften, Hotels oder bei anderen privaten Dienstleistern hält er derzeit für verfehlt. „Das ist doch eine Luxusdebatte, wenn man so will, im Moment sterben uns die Leute“, sagte Lauterbach. „Wir müssen diese Debatte führen, aber ehrlich gesagt, wenn es an der Zeit ist. Das ist doch im Moment überhaupt nicht das Problem.“
Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt, rief Bund und Länder auf, bei der Entscheidung über eine Verlängerung des harten Lockdowns die Zielmarke von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner pro Woche zu überdenken.
„Ob wir uns strikt an der Inzidenz von 50 orientieren, muss man mit Blick auf andere wichtige Faktoren, wie zum Beispiel die psychosozialen Folgen der Schulschließungen, genau abwägen“, sagte Reinhardt dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Der Präsident der Bundesärztekammer verlangte zudem, endlich eine Langfriststrategie zum Schutz der besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen umzusetzen. Flankierend zu den Impfungen seien bundesweit einheitliche Maßnahmen zur Kontaktminimierung gerade für ältere und vorerkrankte Menschen nötig. „Warum ist es so schwer, deutschlandweit feste Seniorenzeitfenster für Einkäufe im Einzelhandel zu schaffen oder spezielle Terminslots in öffentlichen Einrichtungen?", sagte Reinhardt.
Der BÄK-Chef forderte zudem nicht nur für Pflegeheime, sondern auch für pflegende Angehörige ausreichende Testmöglichkeiten und Schutzmaterial. „Das alles kostet Geld und die Umsetzung ist nicht trivial, aber mit solchen Mitteln können unter Umständen Menschenleben gerettet und Lockdowns verhindert werden“, sagte Reinhardt zu seinen Vorschlägen für eine Langfriststrategie. Da wünsche er sich mehr Kreativität von Ländern und Kommunen.
Nach Ansicht von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) müssen die einschneidenden staatlichen Coronabeschränkungen auch nach Fristablauf am 10. Januar zumindest teilweise verlängert werden. Bei der Eindämmung der Pandemie sei Deutschland „bei weitem noch nicht da, wo wir hin müssen“, sagte der CDU-Politiker gestern in den ARD-„Tagesthemen“. Deshalb werde es nach dem 10. Januar „ohne Zweifel Maßnahmen geben“. In welchem Umfang, müssten Bund und Länder bei ihrer geplanten Konferenz am kommenden Dienstag entscheiden.
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