Gutachten: Vollversicherung in der Pflege ohne Eigenanteile möglich

Bremen – Die Zusammenlegung der gesetzlichen sozialen Pflegeversicherung (SPV) und der privaten Pflegeversicherung (PPV) zu einer Pflegebürgerversicherung würde so viele Einnahmen generieren, dass eine Vollversicherung ohne Beitragssatzsteigerungen finanzierbar wäre. Bei einer Vollversicherung müssten die Pflegebedürftigen keine Eigenanteile mehr zahlen.
Das geht aus einem Gutachten der Pflegewissenschaftler Heinz Rothgang und Dominik Domhoff von der Universität Bremen hervor, das heute veröffentlicht wurde. Das Gutachten wurde im Auftrag des Bündnisses für eine solidarische Pflegevollversicherung angefertigt, dem unter anderem Der Paritätische Gesamtverband, Verdi und die Arbeiterwohlfahrt angehören.
Die Pflegeversicherung stehe aktuell vor einem doppelten Finanzierungsproblem, heißt es in dem Gutachten. Zum einen stiegen die Eigenanteile, die Pflegebedürftige selbst aufbringen müssten, kontinuierlich.
Mit dem ursprünglichen Anspruch der Pflegeversicherung, nämlich Armut durch Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, sei diese Entwicklung kaum noch vereinbar. Denn immer mehr Pflegebedürftige seien auf Sozialhilfeleistungen angewiesen, um die Eigenanteile zahlen zu können.
Zum anderen weise die Finanzierung der Pflegeversicherung schon seit ihrer Einführung Probleme auf, deren Folgen immer sichtbarer würden.
Ausgaben für gesetzlich Versicherte doppelt so hoch
„Die Ursache liegt vor allem in der Aufteilung der Pflegeversicherung in die Soziale Pflegeversicherung (SPV) und Private Pflegeversicherung (PPV)“, heißt es in dem Gutachten. „Da die Alters-, Geschlechter- und Risikostruktur für Privatversicherte im Durchschnitt günstiger ist, fallen die Ausgaben der SPV pro versicherter Person doppelt so hoch aus wie die der PPV pro versicherter Person.“
Gleichzeitig bestehe eine strukturelle Einnahmeschwäche der Pflegeversicherung. Diese sei nicht nur darauf zurückzuführen, dass immer mehr einkommensstarke Versicherte mit sogenannten guten Risiken in die PPV wechselten, sondern sie liege auch daran, dass lediglich Einkommen aus Arbeit bis zur Beitragsbemessungsgrenze für die Beitragsbemessung der SPV berücksichtigt werde.
„Steigt das Einkommen aus anderen Einkommensarten oder oberhalb der Bemessungsgrenze stärker, wächst die Gesamtsumme der beitragspflichtigen Einnahmen langsamer als das Bruttoinlandsprodukt (BIP)“, schreiben Rothgang und Domhoff. „So ist das BIP von 2000 bis 2023 um 95 Prozent gestiegen, die beitragspflichtigen Einnahmen je Mitglied haben im selben Zeitraum dagegen nur um 51 Prozent zugenommen.“
Kombination aus Vollversicherung und Bürgerversicherung
Dieses doppelte Finanzierungsproblem benötige auch eine doppelte Lösung, meinen die Autoren: eine Kombination von Vollversicherung und Bürgerversicherung, die zu einer Pflegebürgervollversicherung werde. „Eine alle Kosten abdeckende Vollversicherung kann eine effektive Begrenzung des Eigenanteils gewährleisten“, argumentieren Rothgang und Domhoff.
„Da sie aber auch die Ausgaben erhöhen und damit die bereits existierenden Finanzierungsprobleme der Pflegeversicherung verstärken würde, braucht es zudem eine Bürgerversicherung. Diese soll die gesamte Bevölkerung in die Sozialversicherung und alle Einkommensarten in die Beitragsbemessung einbeziehen. Eine solche Bürgerversicherung könnte eine Vollversicherung ohne Beitragssteigerungen finanzieren.“
In den vergangenen Jahren sind die Eigenanteile der Pflegebedürftigen immer weiter angestiegen. Einer aktuellen Erhebung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zufolge lagen sie Ende 2024 bei 2.424 Euro im bundesdeutschen Durchschnitt. Die Gesamtkosten für einen Heimplatz lagen bei durchschnittlich 4.701 Euro und damit etwa 1.500 Euro höher als 2017.
Insofern steigen auch die Ausgaben der Sozialen Pflegeversicherung immer weiter an, unter anderem infolge einer Leistungsdynamisierung und einer Zunahme der Zahl der Pflegebedürftigen. Trotz einer Beitragserhöhung zum Jahresbeginn warnte die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands, Doris Pfeiffer, vor kurzem vor weiter anhaltenden Finanzierungsproblemen der SPV. Die Lage sei so ernst wie noch nie, so Pfeiffer.
Solidarische Absicherung der Lebensrisiken
Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, kommentierte das Gutachten mit den Worten: „Jetzt haben wir schwarz auf weiß, wie wir die Pflegeversicherung aus der Krise holen und die Explosion der Pflegekosten für Betroffene stoppen. Die solidarische Pflegevollversicherung gehört ganz oben auf die To-do-Liste einer neuen Bundesregierung.“
Sylvia Bühler, Mitglied im Bundesvorstand von Verdi, erklärte: „Pflegebedürftige Menschen erwarten zu Recht, gut gepflegt zu werden. Um qualifizierte Pflegekräfte zu gewinnen und zu halten, braucht es gute Arbeitsbedingungen und faire Löhne.“ Das habe seinen Preis. „Damit sich alle eine gute Pflege leisten können, muss die nächste Bundesregierung die Pflegeversicherung gerecht aufstellen“, so Bühler weiter. „Die Menschen im Land wollen eine solidarische Absicherung der Lebensrisiken, das zeigt der Sozialstaatsradar 2025.“
Zustimmung aus Mecklenburg-Vorpommern
Die mecklenburgisch-vorpommersche Gesundheitsministerin Stefanie Drese (SPD) begrüßte das Gutachten. „Wir brauchen eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung mit einer Verteilung der Lasten auf breitere Schultern. Das Team um Gesundheitsforscher Professor Rothgang zeigt hierfür realistische Wege auf und ist deshalb ein wichtiger und mutiger Beitrag für die zukunftsfeste Aufstellung der Pflegeversicherung“, kommentierte sie.
„Die Pflegeversicherung ist seit 30 Jahren eine unverzichtbare Hilfe für Millionen von Pflegebedürftigen, hat aber selbst chronische Probleme. Wir brauchen deshalb eine nachhaltige und generationengerechte Reform, da Einnahmen und Ausgaben sich immer stärker auseinanderentwickeln“, betonte Drese.
Ältere und kranke Menschen müssten auch weiterhin die bestmögliche Pflege erhalten. Gleichzeitig müsse für Pflegebedürftige und deren Angehörige, aber auch für die Beitragszahlerinnen und -zahler, die finanzielle Belastung begrenzt werden.
Kritik vom PKV-Verband
Der Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV-Verband) kritisierte den Vorschlag hingegen. Die Idee einer Pflegebürgerversicherung ignoriere die explodierenden Kosten der demografischen Alterung, sagte der Direktor des PKV-Verbands, Florian Reuther. Kernproblem der Pflegeversicherung sei das Umlageverfahren, in dem immer weniger jüngere für immer mehr ältere Pflegebedürftige zahlen müssten.
Eine Abschaffung der Privaten Pflegeversicherung würde den Beitragssatz der Sozialen Pflegeversicherung lediglich um 0,3 Prozentpunkte senken. Wenn man den verfassungsrechtlich garantierten Bestandsschutz für Privatversicherte berücksichtige, wären es 0,0 Beitragssatzpunkte.
Mit zehn Prozent der privat Pflegeversicherten lasse sich das strukturelle Finanzproblem für 90 Prozent SPV-Versicherte nicht lösen. „Am Ende würde das gesamte Pflegesystem eine stabile, demografiefeste Finanzierungssäule verlieren“, so Reuther.
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