Politik

Heftige Debatte im Bundestag über Bundesnotbremse

  • Freitag, 16. April 2021
/picture alliance, Michael Kappeler
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Berlin – Die Bundesnotbremse zur Vereinheitlichung der Anticoronamaßnahmen in Deutschland ist auf dem parlamentarischen Weg. Im Bundestag lieferten sich Regierungsparteien und Opposition heute einen heftigen Schlagabtausch in der ersten Beratung über entsprechende Änderungen des Infektions­schutz­gesetzes.

Die Opposition kritisierte vor allem die darin geplanten nächtlichen Ausgangsbeschränkungen und for­der­te Änderungen am Gesetzentwurf. Die FDP drohte mit einer Verfassungsbeschwerde gegen das Vor­haben.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) warnte in der Debatte eindringlich vor einer Überforderung des Gesundheitssystems in der Coronapandemie. „Die Lage ist ernst, und zwar sehr ernst.“ Das geplante Ge­setz solle das Land aus der „furchtbaren Phase“ der ständig steigenden Infektionszahlen herausführen und ein immer weiteres Ansteigen bei den Schwerkranken und Intensivpatienten verhindern.

Sie verteidigte die geplanten Ausgangsbeschränkungen. „Es geht darum, abendliche Besuchsbewe­gun­gen von einem Ort zum anderen – im Übrigen auch unter Benutzung des öffentlichen Personennah­ver­kehrs – zu reduzieren.“

Mit dem Gesetz soll es künftig bundeseinheitliche Regelungen für Coronamaßnahmen geben. Über­schrei­tet die Zahl der Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen in einer Stadt oder einem Landkreis den Wert von 100 an drei aufeinander folgenden Tagen, müssen etwa Geschäfte ge­schlos­sen werden und es greifen Ausgangsbeschränkungen ab 21 Uhr. Schulen sollen ab einem Wert von 200 mit Ausnahmen keinen Präsenzunterricht mehr anbieten dürfen.

Bisher lagen solche Maßnahmen in der Verantwortung der Länder. Die erneute Änderung des Infektions­schutzgesetzes hatte die Bundesregierung in Folge des Scheiterns der sogenannten Osterruhe auf den Weg gebracht.

Scharfe Kritik kam von AfD-Fraktionschefin Alice Weidel. Sie nannte den Gesetzentwurf ein „alarmie­ren­des Dokument obrigkeitsstaatlichen Denkens“. Der Impuls dazu gehe vom Kanzleramt und insbeson­dere von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) aus. „Sie misstrauen den Bürgern, deshalb wollen Sie sie tagsüber gängeln und nachts einsperren“, sagte Weidel. Die Regierung lege zudem die Axt an den Föderalismus. „Ausgangssperren sind unverhältnis­mäßig und verfassungswidrig.“

FDP-Partei- und Fraktionschef Christian Lindner drohte der Bundesregierung mit einer Verfassungs­be­schwerde. „Es ist richtig, dass nun bundeseinheitlich gehandelt wird“, sagte er. Die geplanten Regelun­gen zu nächtlichen Ausgangsbeschränkungen nannte er aber verfassungsrechtlich „hochproblematisch“. Man werde Vorschläge machen, dieses Gesetz verfassungsfest zu machen und sagte an die Koalitions­fraktionen gerichtet, die FDP-Fraktion werde sich gezwungen sehen, „den Weg nach Karlsruhe im Wege von Verfassungsbeschwerden zu gehen“, wenn auf die Bedenken nicht eingegangen werde.

Grüne und Linke warfen der Regierung vor, das Wirtschaftsleben in dem Gesetz nicht ausreichend zu berücksichtigen. In der Wirtschaft gebe es faktisch null Beschränkung, sagte der Linken-Politiker Klaus Ernst. Im Gesetz stehe etwa nicht, dass man testen müsse, bevor man sich am Arbeitsplatz aufhalte. „Warum schreiben sie das nicht rein? (...) Weil sie den Unternehmerverbänden im Hintern hängen.“

Linksfraktionschef Dietmar Bartsch bezeichnete die geplante Bundesnotbremse als „Abrissbirne des Par­lamentarismus“. Das Vorhaben mit seinen Eingriffen in Grundrechte und Ausgangsbeschränkungen sei nicht die Lösung.

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt forderte, dass „dringend nachgebessert“ werden müsse. „Und da geht es zuallererst für mich um die Kontakte in der Arbeitswelt, die müssen maximal rechts­ver­bindlich runter und der Schutz muss hoch.“ Göring-Eckardt kritisierte zudem den geplanten Grenzwert für Schulschließungen, der im Gesetz bei 200 festgelegt wird. Erst ab dieser Inzidenz zu handeln, sei zu spät, sagte sie.

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warb in der Debatte eindringlich für eine schnelle Umset­zung der geplanten Ausgangsbeschränkungen am Abend gegen die dritte Coronawelle. „Es wird alleine nicht reichen, aber in keinem Land ist es gelungen, eine Welle mit Variante B.1.1.7 noch einmal in den Griff zu bekommen, ohne dass man nicht auch das Instrument der Ausgangsbeschränkung, und nicht -sperre, genutzt hätte“, sagte er.

Anhörung im Gesundheitsausschuss

Nach der ersten Lesung im Bundestag fand bereits heute Nachmittag eine öffentliche Anhörung im Ge­sundheitsausschuss zur geplanten Bundesnotbremse statt. Die Verabschiedung des Gesetzes im Bundes­tag ist für den kommenden Mittwoch vorgesehen. Danach muss es noch den Bundesrat passieren.

Die im Rahmen der Anhörung befragten Experten begrüßten mehrheitlich die vorgesehenen Maßnah­men. Florian Hoffmann, Generalsekretär der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), betonte, die steigenden Coronainfektionszahlen brächten die Intensivstationen ab­sehbar „an die Grenze des Möglichen“. Deshalb müssten die Infektionszahlen schnellstmöglich gesenkt werden – die geplanten Eindämmungsmaßnahmen bewerte man als „gut“.

Anne Bunte, Leiterin der Abteilung Gesundheit beim Kreis Gütersloh, verwies auf die deutlich anstecke­renden Coronavarianten. In Verbindung mit einer hohen Mobilität der Bevölkerung mache dies aktuell die Rückverfolgbarkeit der Infektionsketten schwierig bis unmöglich. Bundesweite Regelungen zur Ein­dämmung des Coronavirus seien deshalb aus ihrer Sicht dringend notwendig.

Rechtsexperten bezeichneten den Gesetzentwurf im Großen und Ganzen als gelungen. Teilweise wurden allerdings die Eingriffe in die kulturhoheitlichen Befugnisse der Länder sowie die fehlende Befristung kritisiert. Mehrere Juristen bezeichneten zudem die geplante Ausgangssperre als verfassungsrechtlich zumindest bedenklich.

dpa/aha

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