Politik

Impfstoffabgeleitete Polioviren im Abwasser an weiteren Standorten nachgewiesen, Wachsamkeit geboten

  • Montag, 3. Februar 2025
/TuMeggy, stock.adobe.com
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Berlin – Im Rahmen von Abwasseruntersuchungen wurden Ende des vergangenen Jahres an zwei neuen Stand­orten in Deutsch­land zirkulierende impfstoffabgeleitete Polioviren Typ 2 (cVDPV2) entdeckt. Das berich­tet das Robert-Koch-Institut (RKI) im Epidemiologisches Bulletin (2025; DOI: 10.25646/12988). Zuvor waren be­reits an sieben anderen Entnahmestellen cVDPV2 nachgewiesen worden (Epidemiologisches Bulletin 2024; DOI: 10.256­46­/12938).

„Die aktuellen Nachweise von cVDPV2 in Deutschland und Europa sind eine Erinnerung daran, dass auch bereits poliofreie Regionen nicht vor einem Wiedereintrag von Polioviren geschützt sind“, wird im aktuellen RKI-Bericht gewarnt (Hinweise des RKI siehe Kasten).

„Es ist von größter Bedeutung, dass wir jede Einschleppung eines schädlichen Poliovirus nach Europa als Weck­ruf betrachten“, mahnen auch die Direktorin der European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) Pa­mela Rendi-Wagner und der Direktor des Regionalbüros der Weltgesundheitsorganisation für Europa (WHO / Europe) Hans Kluge in einem Editorial in Eurosurveillance (DOI: 10.2807/1560-7917.ES.2025.­30.4.2500076).

Die Krankheit möge für viele in Vergessenheit geraten sein, aber sie ist nicht verschwunden. Für Ungeimpfte in Europa und allen Regionen der Welt stelle Poliomyelitis immer noch ein Risiko dar.

Die neun betroffenen Regionen in Deutschland schließen München, Dresden, Hamburg, Köln, Bonn, Düssel­dorf und Mainz sowie neu Berlin und Stuttgart ein. Ende Oktober des vergangenen Jahres gab es die erste positive Probe.

An mehreren Standorten, etwa in Köln, Bonn und Düsseldorf, haben sich cVDPV2 auch in den Folgewochen nachweisen lassen, wie es im RKI-Bericht heißt. Somit seien die Viren dort über einen Zeitraum von acht Wochen nachweisbar gewesen.

„Das ist keine systematische Untersuchung der gesamten Bevölkerung in Deutschland“, erläuterte Cornelius Rau, Teamleiter Surveillance impfpräventabler Erkrankungen und Impfquotenmonitoring am RKI, im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt.

Die Nachweise seien vom Nationalen Referenzzentrum für Poliomyelitis und Enteroviren am RKI (NRZ PE) im Rahmen eines vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderten Forschungsprojekts in Zusammen­arbeit mit weiteren Kooperationspartnern erhoben worden. Daher handele es sich nicht um eine systemati­sche Untersuchung der gesamten Bevölkerung. Genaue Aussagen zur Verbreitung von cVDPV2 seien darum zum aktuellen Zeitpunkt nicht möglich.

Nachweis auch in anderen europäischen Ländern

Bei den in den Abwasserproben nachgewiesenen Viren handele es sich nicht um das Impfvirus, das in dem oralen Polio-Vakzin (OPV) enthalten ist und gelegentlich leichte Symptome wie Durchfall verursachen kann, sagte Rau weiter. „Was wir jetzt sehen, ist ein verändertes, vom ursprünglichen Impfvirus abgeleitetes Virus.“

Es habe potenziell pathogene Eigenschaften des Wildtyp-Virus wiedererlangt und könne ähnliche Symptome hervorrufen. Vermutlich brauche es für die Entstehung solcher impfstoffabgeleiteten Viren wie cVDPV2 die Weitergabe über mindes­tens ein Jahr in einer nicht gut geimpften Bevöl­kerung.

Dem RKI-Bericht zufolge sind die in den Abwas­ser­proben festgestellten cVDPV2-Stämme mit einem erstmals 2020 in Nigeria nachgewiesenen Stamm verwandt. „Wir denken, dass das Virus, das wir jetzt in Europa sehen, schon länger auf der Welt existiert“, sagt Rau.

Bislang sei aber noch kein klinischer Fall von Poliomyelitis oder Kinderlähmung, in Deutschland oder in Europa gemeldet worden, betonte Rau. Er weist darauf hin, dass die Poliomyelitis eine melde­pflichtige Erkrankung ist und bereits Verdachtsfälle dem Gesundheitsamt gemeldet werden müssen.

So sind cVDPV2 in den vergangenen fünf Monaten in Abwasserproben in vier weiteren europäischen Ländern entdeckt worden – in Finnland mit einem Nachweis, in Polen und Spanien mit je zwei Nachweisen sowie im Vereinigten Königreich (UK) mit sechs Nachweisen (Eurosurveillance 2025; DOI: 10.2807/1560-7917.ES.2025.30.3.2500037).

In einer schnellen Risikobewertung (Rapid Risk Assessment) weist die ECDC darauf hin, dass cVDPV2 im Rahmen einer umweltbezogenen Überwachung jetzt erstmalig in der Europäischen Union und im Europäischen Wirtschaftsraum (EU/EEA) sowie in UK entdeckt worden seien. Poliomyelitisfälle, die damit in Zusammenhang stehen, wären bislang nicht gemeldet worden.

Die Sequenzanalysen der in den Abwasserproben festgestellten cVDPV2-Stämme ergaben zum einen eine hohe genetische Vielfalt innerhalb der einzelnen europäischen Standorte, zum anderen aber auch eine hohe genetische Überein­stimmung zwischen den einzelnen Ländern, wie Sindy Böttcher und Sabine Diedrich vom RKI sowie weitere Forschende in Eurosurveillance schreiben.

Dies spräche dafür, dass genetisch verwandte Viren innerhalb eines kurzen Zeitraums aus einem unbekannten Land oder Gebiet nahezu gleich­zeitig in verschiedene europäische Regionen eingeführt wurden, so die europäische Arbeits­gruppe. Es seien aber auch andere Erklärungen möglich, zum Beispiel Transmissionen zwischen europäischen Ländern.

An Poliomyelitis denken

Ähnlich sieht das Rau. Die Daten würden eher für multiple Importe sprechen. So könnten viele Menschen aus einem Gebiet, in dem cVDPV2 vor­kommt, nach Deutschland und in verschiedene andere europäische Länder gereist oder zurück­gekehrt sein.

Auch Rendi-Wagner und Kluge vertreten diese Meinung. Bisher gäbe es keine Hinweise auf lokal zirkulierende VDPV2 in Europa. „Allerdings kann die Einfuhr von Polioviren zu Ausbrüchen führen, wenn das Virus auf ungeimpfte Personen trifft.“

Daher sollten Ärztinnen und Ärzte wachsam sein und unabhängig von einer Reiseanamnese an die Differen­zial­diagnose Poliomyelitis denken, erklärte Rau. Bei jedem Fall einer akuten schlaffen Parese (AFP), der nicht trau­mabedingt ist, müsse eine Poliomyelitis ausgeschlossen werden. Ähnliches gelte für andere typische Symptome, die nicht durch andere Diagnosen erklärt werden könnten, oder für Meningitiden und Enzephalitiden, bei denen kein Erreger nachgewiesen werden konnte.

Rau empfiehlt, Verdachtsfälle von Poliomyelitis unverzüglich an das zuständige Gesundheitsamt zu melden und gleichzeitig zur Sicherung der Diagnose Kontakt mit dem Nationalen Referenzzentrum für Poliomyelitis und Enteroviren am RKI aufzunehmen (siehe Kasten).

Impfstatus kontrollieren und Impfungen nachholen

Weiterhin müsse der Impfstatus überprüft und gegebenenfalls Impfungen nachgeholt werden, forderte Rau. Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt die Grundimmunisierung mit drei Dosen des Vakzins, das inakti­vierte Polioviren (IPV) enthält, im Alter von zwei, vier und elf Monaten, gefolgt von einer Auffrisch­impfung im Alter zwischen neun und 16 Jahren (Epidemiologisches Bulletin 2024; DOI: 10.25646/12958).

Die dritte Impfung im Rahmen der Grundimmunisierung erhalten allerdings nur 21 Prozent der Säuglinge bis zum Ende des ersten Lebensjahres, ergaben Analysen im Rahmen des RKI-Impfquotenmonitorings (Epide­mi­olo­gisches Bulletin 2024; DOI: 10.25646/12955). Dabei sei die Impfquote bei der Erstimpfung mit 96 Prozent sehr hoch, sagt der RKI-Experte.

Nur ungefähr vier Prozent der Kinder würden gar nicht geimpft. „Die Impfbereitschaft ist insgesamt sehr hoch, nur wird die Impfserie meist deutlich zu spät abgeschlossen und es gibt große regionale Unterschiede bei der Impfquote.“

Die gute Nachricht sei, dass bis zum Schulbeginn die allermeisten Kinder eine komplette Grundimmunisie­rung erhalten haben, so Rau. „Aber je früher Kinder geschützt sind, desto besser.“ Daher sollten die Empfeh­lungen der STIKO auch umgesetzt werden und die Grundimmunisierung nach Möglichkeit mit zwei Monaten begonnen und mit elf Monaten abgeschlossen sein.

Zudem rät Rau, bei Menschen, die sich sanitäre Anlagen teilen müssen, zum Beispiel bei Geflüchteten in Gemein­schaftsunterkünften, den Impfstatus zu überprüfen und, wenn erforderlich, fehlende Impfungen nachzuholen.

Innerhalb der EU/EEA hätten Schätzungen der ECDC zufolge zwischen 2012 und 2021 etwa 2,4 Millionen Kinder im Alter von 12 bis 23 Monaten vermutlich keine vollständige Grundimmunisierung, also drei Impfungen, erhal­ten, schreiben Rendi-Wagner und Kluge. Hinzu kämen wahrscheinlich ungefähr 600.000 Kinder in den Jahren 2022 und 2023.

Beide rufen dazu auf, diese Lücken unbedingt zu schließen, um das Risiko für Ausbrüche zu senken. Denn trotz der insgesamt hohen Durchimpfungsrate in den einzelnen Ländern könne der ständige Zustrom von eingeführ­ten Polioviren nach Europa auf fruchtbaren Boden fallen und zu Fällen von Lähmungs­erscheinun­gen führen, solange Teilpopulationen nicht ausreichend geimpft sind. „Dies kann und muss verhindert werden.“

In der schnellen Risikobewertung fordert die ECDC unter anderem, Impfquoten von mehr als 90 Prozent zu erreichen beziehungsweise aufrecht zu erhalten – nicht nur auf nationaler, sondern auch auf subnationaler und Gemeindeebene. Dazu sollten gezielte Nachholprogramme konzipiert und durchgeführt werden.

„Eine Zukunft ohne Polio bleibt unser Ziel“, betonten Rendi-Wagner und Kluge, „aber das ist keineswegs sicher.“ Die anhaltende weltweite Verbreitung von Polioviren und die zunehmenden Poliovirus-Nachweise ließen die Eradikation immer unsicherer erscheinen. „Wir müssen alles tun, um das Wiederauftreten der Kinderlähmung in poliofreien Gebieten mit allen Mitteln zu verhindern.“

aks

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