Koalitionsvertrag lässt Fragen zu sozialen Sicherungssystemen offen

Berlin – Der Koalitionsvertrag von Union und SPD liegt erst wenige Stunden auf dem Tisch, schon wird über einzelne Punkte, vor allem Finanzierungsfragen gestritten. Bei SPD und Union überwiegt die Zufriedenheit. Bei der Opposition kommt das Papier wie zu erwarten wenig gut an.
„Der Koalitionsvertrag für Gesundheit und Pflege ist gelungen“, twitterte Noch-Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gestern. SPD und Union fänden die richtigen Antworten auf die großen gesundheitspolitischen Herausforderungen der Zeit: fehlendes Personal, Qualitätsmängel, steigende Kosten, mehr Bedarf.
Mit besserer Patientensteuerung durch Hausärzte, einer Garantie auf Arzttermine, der Öffnung der Krankenhäuser auch für ambulante Behandlungen, einer umfassenden Notfallreform und der Fortsetzung der Digital- und Krankenhausreform werde die Koalition dafür sorgen, dass die Gesundheitsversorgung besser werde, schrieb Lauterbach weiter.
Er wünschte seinem Nachfolger – das Ressort geht an die CDU – ein gutes Händchen. „Kein Geheimnis, ich hätte als Minister gerne weitergearbeitet. Ich bin aber sicher, dass mein Nachfolger diese Aufgaben erfolgreich bewältigen wird und wünsche dabei viel Glück und Erfolg“, betonte er.
Als möglicher Nachfolger gehandelt – auf internen Besetzungslisten für die Ministerposten taucht sein Name immer wieder auf, offiziell bekannt werden sollen die Namen aber im Mai – wird der derzeitige gesundheitspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Tino Sorge.
„Wir stehen vor einem neuen Aufbruch in der Gesundheitspolitik – in so anspruchsvollen Zeiten wie selten zuvor“, sagte Sorge gestern. Er betonte, die Gespräche mit der SPD seien „von gegenseitigem Vertrauen und großer fachlicher Expertise geprägt“ gewesen.
„Die Ergebnisse unserer Arbeitsgruppe sind in weiten Teilen unverändert in die Endfassung des Koalitionsvertrages überführt worden. Bis in die Spitzen unserer Parteien ist klar, dass ein funktionierendes und solide finanziertes Gesundheitswesen unverzichtbar ist“, sagte Sorge.
Mit dem Koalitionsvertrag gebe es einen Fahrplan, um das Gesundheitswesen auf Vordermann zu bringen. „Wir stärken all jenen den Rücken, die unser Gesundheitswesen am Laufen halten – sei es in den Praxen oder Apotheken, in den Kliniken oder Pflegeheimen“, verspricht er. Darüber hinaus sorge man „rasch, aber mit der nötigen Expertise, für eine solide Finanzierung des Systems“.
Es gelte die immer neuen Sprünge bei Beiträgen und Eigenanteilen abzubremsen, das sei längst auch eine Frage des gesellschaftlichen Zusammenhaltes. Zu den Finanzierungsvorhaben und Unterstützungsprojekten, die noch in der Arbeitsgruppe Gesundheit detailliert aufgeführt waren, ist im Koalitionsvertrag selbst aber nicht mehr allzu viel enthalten. Alles steht unter Finanzierungsvorbehalt. Welche Projekte es am Ende geben wird, ist offen.
Für Sorge gehören die Finanzen der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung dazu. „Der Koalitionsvertrag kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Finanz- und Handlungsdruck enorm ist. Die Finanzen der Kranken- und Pflegekassen werden wir schnellstens stabilisieren müssen. Sonst droht uns ein Systemkollaps noch vor Ende der Legislaturperiode“, sagte er. Im Koalitionsvertrag ist allerdings eine Expertengruppe geplant, die Vorschläge für Reformen bis 2027 vorlegen soll.
„Der Koalitionsvertrag ist eine starke Weichenstellung für eine bessere Gesundheitsversorgung mit klarem Fokus auf den ländlichen Raum“, lautet das Fazit von Emmi Zeulner (CSU). Sie betonte, man müsse „wirklich an die Strukturen ran“ und dafür habe man mit dem Koalitionsvertrag die Grundlagen gelegt.
„Es geht um strukturelle Reformen, stabile Beiträge, schnellere Zugänge zu Arztterminen und bessere Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen. Es geht um nicht weniger als das Systemvertrauen der Menschen wiederherzustellen, indem wir unsere Versprechen halten und spürbare Verbesserungen in der Gesundheits- und Pflegeversorgung in unserem Land umsetzen“, so Zeulner.
Unionsfraktionsvize Jens Spahn (CDU) hat eingeräumt, dass der Koalitionsvertrag noch keine konkreten Lösungen für die angespannte Lage bei den Sozialsystemen bereithält.
„Das muss man zugeben: Bei den sozialen Sicherungssystemen haben wir noch eine Riesenbaustelle“, sagte Spahn im ARD-„Morgenmagazin“. Er fügte hinzu: „Wir haben uns auf das Allerdringendste konzentriert“, etwa auf die Migrationswende und die Ankurbelung der Wirtschaft.
Union und SPD waren für ihre Pläne im Koalitionsvertrag kritisiert worden, für eine Reihe von Themen lediglich Kommissionen und Prüfgruppen einrichten zu wollen, die sich mit Lösungen befassen sollen. Spahn sagte dazu in der ARD, bei dem Thema „müssen wir uns auf die 2030er Jahre vorbereiten“. „Wir täuschen gar nicht vor, dass wir da schon eine Lösung hätten – die müssen wir finden.“
SPD-Generalsekretär Matthias Miersch verteidigte den Koalitionsvertrag gegen die Kritik an fehlenden Lösungen für die angeschlagenen Sozialsysteme. Ein Koalitionsvertrag sei „nicht die Bibel und auch kein Gesetz“, sagte er ebenfalls im ARD-„Morgenmagazin“. Vielmehr handle es sich um „Absichtserklärungen, was man in den kommenden vier Jahren tun will“.
Fragen zur Zukunft der Rente, der Kranken- und der Pflegeversicherung seien ein „Megathema was man nicht mal kurz in zwei Nächten abhandelt“, fuhr Miersch fort. „Insofern haben wir Eckpunkte dort reingeschrieben.“ Zugleich sei es der SPD aber wichtig gewesen, eine Stabilisierung des Rentensystems bei 48 Prozent zu vereinbaren. Viele andere Fragen seien „in der Tat offen benannt“, sagte er in der ARD.
Miersch verteidigte dieses Vorgehen. Diese Kommissionen sollten konkrete Vorschläge erarbeiten, und „dann werden wir dementsprechend Gesetze auch machen“. Krankenkassenvertreter von AOK, Techniker oder Barmer hatten kritisiert, dass von den ursprünglichen konkreten Vorschlägen zur Entlastung der Kranken- und Pflegeversicherung so gut wie nichts übriggeblieben sei.
Der Chef der CDU-Arbeitnehmervereinigung (CDA), Dennis Radtke, forderte von seiner Partei angesichts des mageren Wahlergebnisses von 28,5 Prozent ein schärferes sozialpolitisches Profil. „Die Wahlergebnisse haben gezeigt: Inhaltlich und personell darf die CDU die Sozialpolitik nicht vernachlässigen“, sagte Radtke. „Wenn die SPD mal wieder das Arbeit- und Sozialministerium übernimmt, braucht es eine klare christlich-soziale Stimme im Gesundheitsministerium“, fügte er hinzu.
„Wir müssen als CDU jetzt klar kommunizieren: Die Sozialthemen sind auch unsere Themen“, verlangte Radtke. „Unsere Politik darf nicht am Alltag der hart arbeitenden Mitte vorbeigehen. Da brauchen wir wieder ein anderes Auftreten und ein anderes Selbstverständnis.“
Die Grünen haben den Koalitionsvertrag von Union und SPD als „große Enttäuschung“ angesichts der aktuellen Probleme kritisiert. Deutschland und die Welt kämpften mit drei zentralen Herausforderungen – dem Kollaps der Ökosysteme, der Erosion der regelbasierten Ordnung in der Welt und dem Erstarken des Rechtsextremismus, sagte Parteichef Felix Banaszak in Berlin.
Auf all das habe die künftige Regierungskoalition nicht „den Hauch einer Antwort“. So würden die Klimaziele aufgeweicht, das Ende des Verbrenners in Frage gestellt und der Kohleausstieg verzögert. Banaszak beklagte vor dem Hintergrund des kürzlich beschlossenen Sondervermögens in Höhe von 500 Milliarden Euro außerdem einen „fehlenden politischen Willen, dieses Milliardenvermögen einzusetzen“.
Ko-Chefin Franziska Brantner ergänzte: „Diese Koalition hat Geld wie Heu, aber Ideen wie Stroh.“ Sie beklagte außerdem, dass die künftige Regierung mit ihren Plänen die junge Generation im Stich lasse und nannte die Themenbereiche Renten, Bildung und Innovation. „Nicht ist konkret geregelt, alles wird vertagt“, fügte sie mit Blick auf eine Reihe von geplanten Expertenkommissionen zu verschiedenen Themen hinzu.
„Der vorliegende Koalitionsvertrag verpasst die Chance, eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit anzugehen: die Stabilisierung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung“, beklagte die Grünen-Abgeordnete Laura Piechotta.
So fehle etwa im Gegensatz zum Papier der Arbeitsgruppe die Zusage, versicherungsfremde Leistungen aus Steuermitteln zu finanzieren und den Bundeszuschuss zu dynamisieren. Stattdessen gebe es „unverbindliche Floskeln und der Verweis auf eine Kommission, die teilweise erst 2027 konkrete Vorschläge liefern soll“. Das sei zu spät und zu vage.
Was als große Versorgungswende angekündigt worden sei, entpuppe sich als „Verwaltungsversion ohne Ehrgeiz“, sagte Janosch Dahmen (Grüne). Von dem, was die Fachpolitikerinnen und -politiker der Koalitionsparteien in der Arbeitsgruppe vorgelegt hätten – in den Bereichen GKV-Finanzen, Prävention, Primärversorgung und Pflege – bleibe im finalen Koalitionsvertrag „nichts übrig“.
„Die SPD knickt ein, die CDU blockiert – und übrig bleibt ein Sammelsurium aus Prüfaufträgen, Kommissionsversprechen und ambitionslosen Absichtserklärungen“, so Dahmen. Das Primärarztsystem bezeichnete er als Mogelpackung.
Auch streicht die neue Koalition ihre eigenen 100-Tage-Versprechen. „Wer Versorgung so verwaltet, statt sie zu gestalten, gefährdet nicht nur den sozialen Frieden, sondern auch die Zukunftsfähigkeit unseres Gesundheitssystems“, sagte er.
Als erste der drei beteiligten Parteien hat die CSU heute den ausgehandelten Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD gebilligt. Der einstimmige Beschluss fiel in einer Schalte von Parteivorstand, CSU-Bundes- und Landtagsabgeordneten, wie es hieß.
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