„Nutzen und Schaden wurden sorgfältig abgewogen“
Berlin – Wenn die Schulen wieder schrittweise öffnen, liegt jetzt erstmals eine S3-Leitlinie für „Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle einer SARS-CoV-2-Übertragung an Schulen“ vor, die Schulen eine wissenschaftlich fundierte und evidenzbasierte Handlungsempfehlung zur Verfügung stellt. Erarbeitet wurde sie von Experten aus 36 Fachverbänden der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) gemeinsam mit Vertretern des Öffentlichen Gesundheitsdienstes sowie Eltern-, Schüler- und Lehrervertretern.
Gefördert wurde das Vorhaben vom Bundesforschungsministerium im Rahmen seiner Förderung des Nationalen Forschungsnetzwerks der Universitätsmedizin zu COVID-19. Federführend bei der Erstellung der Leitlinie waren die vier Fachgesellschaften für Epidemiologie, für Public Health, für Kinder- und Jugendmedizin und für pädiatrische Infektiologie.
Das Deutsche Ärzteblatt sprach mit einer der Koordinatorinnen der S3-Leitlinie, Eva Rehfuess, Lehrstuhlinhaberin für Public Health und Versorgungsforschung an der Pettenkofer School of Public Health der LMU München.

5 Fragen an Eva Rehfuess, Koordinatorin der S3-Leitlinie zu Schulöffnungen in der Pandemie
DÄ: Frau Professorin Rehfuess, haben Sie mit Ihrer S3-Leitlinie jetzt die Voraussetzung für eine Schulöffnung geschaffen?
Eva Rehfuess: Wenn die Schulen schrittweise öffnen, bieten die Empfehlungen eine gute Grundlage. Zum einen können sie helfen, klarere Regeln vor Ort aufzustellen – Leitlinien sind da immer auch Organisations- und Argumentationshilfen. Zum anderen lassen sie die notwendige Freiheit, die Maßnahmen an die lokalen Gegebenheiten anzupassen.
Wie jede AWMF-Leitlinie liefert auch diese Handlungskorridore, keine starren Vorgaben. Die Leitlinie sollte aber nicht auf die Szenarien von Schulschließung oder -öffnung reduziert werden. Viel wichtiger ist, dass die Maßnahmen einen möglichst kontinuierlichen, sicheren und geregelten Schulbetrieb ermöglichen sollen, sofern das allgemeine Infektionsgeschehen das irgend zulässt.
DÄ: Sie plädieren für eine nur schrittweise Öffnung der Schulen. Einige Schüler werden also aus Gründen des Infektionsschutzes noch im Distanzunterricht bleiben. Haben Sie die psychosozialen Belastungen und eingeschränkten Bildungschancen dagegen abgewogen?
Rehfuess: Ja, das haben wir. Bei der Erarbeitung der Empfehlungen hat die Leitliniengruppe neben den gesundheitlichen Wirkungen jeder Maßnahme auch die Kriterien Akzeptanz, gesundheitliche Chancengleichheit, soziale und ökologische Folgen, finanzielle und wirtschaftliche Folgen und Machbarkeit bewertet, ebenso mögliche Einschränkungen der Grundrechte.
Nutzen und Schaden wurden dadurch sorgfältig abgewogen. Bei fehlender oder nicht ausreichender Evidenz wurde in der Leitlinie jeweils Konsens angestrebt. Die vielfältigen Perspektiven der Mitglieder unserer Leitliniengruppe – neben wissenschaftlichen Akteuren auch Schüler, Lehrer, Schulleiter, Eltern, Entscheidungsträger in Schulämtern, Akteure des Öffentlichen Gesundheitsdienstes – waren dabei besonders wichtig.
DÄ: Das gestufte Vorgehen soll sich Ihrer Leitlinie zufolge am lokalen Infektionsgeschehen orientieren. An welchen Markern sollen das die Kommunen konkret festmachen?
Rehfuess: Wir hatten uns bewusst an die Einteilung des Robert-Koch-Instituts (RKI) angelehnt, um keine anderen, gegebenenfalls widersprüchlichen Stufen einzuführen. Wir haben damit aber ebenso bewusst darauf verzichtet, die Stufen an festen Grenzwerten und einzelnen Parametern festzumachen.
Das RKI berücksichtigt für die Risikobewertung Kriterien wie Fallzahlen, Übertragbarkeit und Belastung des Gesundheitswesens. Diese komplexere Bewertung der Situation ist angemessener als die Reduktion auf beispielsweise 7-Tage-Inzidenzwerte, die unter anderen den Einfluss neuer Virusvarianten, aber auch regionaler Hotspots nur unzureichend widerspiegeln. Das RKI bewertet auf Bundesebene, für den Umgang mit Schulen muss die Einstufung regional erfolgen.
DÄ: Für die Erstellung der Leitlinie haben 36 medizinische Fachgesellschaften zusammengearbeitet – noch dazu in Rekordzeit. Wie schwierig hat sich der Prozess gestaltet?
Rehfuess: Kurzgefasst: immer konstruktiv, strikt sach- und lösungsorientiert, ungewöhnlich engagiert. Natürlich gab es eine Vielzahl unterschiedlicher Erfahrungen, Interessen und Perspektiven.
Auf dem Weg zur Konsensfindung – was ja eine Besonderheit des Leitlinienprozesses allgemein ist – mussten immer wieder Kompromisse geschlossen werden. Aber insgesamt war der Prozess von der allgemeinen Einstellung geprägt, möglichst schnell den Schulen helfen zu wollen, Einzelinteressen hintanzustellen und eine gemeinsame Lösung zu finden.
DÄ: Es handelt sich um eine lebende Leitlinie. Wann muss sie nach Ihrer Ansicht voraussichtlich angepasst werden?
Rehfuess: Dass wir sie anpassen und ergänzen müssen ist klar, wie bei allen COVID-Leitlinien zwingen uns allein die ständig neuen Entwicklungen im Verlauf der Pandemie dazu, beispielsweise das Auftreten von Mutationen. Zudem werden zum Beispiel Berufsschulen oder Förderschulen nicht behandelt, aber auch das Vorgehen bei Abschlussklassen fehlt noch.
Auch das Thema Testen und Teststrategien hatten wir zunächst ausgeklammert, da hier dem vom Netzwerk der Universitätsmedizin geförderten Projekt B-Fast an Erkenntnissen und Empfehlungen gearbeitet wird. Das bedeutet, dass es einen klaren Bedarf für ein schnelles Update gibt, am besten im Frühsommer. Wir müssen jetzt aber überlegen, wie das umgesetzt werden kann und wir brauchen Fördermittel, die die schnelle, ressourcenintensive Weiterarbeit ermöglichen.
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