Organspende: Neuer Vorstoß für Widerspruchsregelung im Parlament

Berlin – Emotional, kontrovers und teilweise äußerst hitzig wurde gestern Abend im Parlament über eine mögliche Neuregelung der Organspende in Deutschland debattiert. Anlass war die erneute Initiative einer fraktionsübergreifenden Abgeordnetengruppe, die im Bemühen um eine Erhöhung der Organspenderate in Deutschland einen Gesetzentwurf zur Einführung einer Widerspruchsregelung eingebracht hatte. Dieser wurde jetzt in erster Lesung diskutiert. Ein ähnlicher Vorstoß war 2020 im Parlament gescheitert.
Die Bevölkerung soll mit der Neuregelung aufgerufen werden, sich zu Lebzeiten mit dem Thema der Organspende auseinanderzusetzen und sich im Zweifelsfall aktiv dagegen zu entscheiden. Dies soll niedrigschwellig und ohne Begründung möglich sein, so der Entwurf der Gruppe von Abgeordneten von SPD, Union, Grünen, FDP und Linken.
Zu den Initiatorinnen gehört Sabine Dittmar (SPD). Die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium und Ärztin wies gestern darauf hin, dass in Deutschland mehr als 8.500 Menschen auf einer Warteliste für ein Organ stünden. Viele davon würden versterben, bevor sie es erhielten.
„Die Entscheidungslösung ist eklatant gescheitert“, sagte sie. Gute Strukturen in der Organspende seien wichtig, aber die Widerspruchsregelung als ein Baustein fehle. Dittmar betonte außerdem, dass der Gesetzentwurf ein Inkrafttreten der Widerspruchsregelung erst für 2027 vorsehe. Bis dahin bleibe ausreichend Zeit, um die Bevölkerung aufzuklären.
Gitta Connemann, CDU-Abgeordnete und ebenfalls Mitinitiatorin des Entwurfs, betonte, dass die Widerspruchsregelung kein Allheilmittel sei. „Aber wir haben alles andere versucht.“
Connemann erklärte, dass nur 0,5 Prozent der Sterbenden überhaupt für eine Organentnahme infrage kämen, da der Eintritt des irreversiblen Hirntodes Voraussetzung für eine Organspende sei. Es sei deshalb wichtig, auch die Widerspruchsregelung als Baustein zu einer Erhöhung der Spenderrate zu nutzen. „Wir haben alles andere versucht“, sagte sie. „Es fehlt nur noch die Widerspruchslösung.“
Martina Stamm-Fibich (SPD) berichtete, dass sie bei der Abstimmung vor vier Jahren gegen die Einführung einer Widerspruchsregelung gestimmt hätte. „Ich habe zunächst auf andere Maßnahmen gesetzt“, sagte sie. „Dies war aber eine Fehleinschätzung und ich habe inzwischen meine Meinung geändert.“
„Der Großteil der Bevölkerung befürwortet die Organspende, aber wir müssen das System neu regeln, um diese Zustimmung auch besser abbilden zu können“, meinte Tina Rudolph, SPD. Die Einführung der Widerspruchslösung sei dafür ein wichtiger und für viele Menschen sogar ein lebensrettender Schritt. „Viele der Organe, die hier transplantiert werden, kommen aus Ländern, die die Widerspruchsregelung bereits praktizieren“, sagte sie.
Jeder, der selbst ein Organ aus einem Land mit einer Widerspruchsregelung nehmen würde, könne eigentlich zu dem Antrag nicht „Nein“ sagen, erklärte auch Connemann. Einen Zwang zur Organspende dürfe es niemals geben, aber es sei zumutbar, sich zu entscheiden. So könnten auch Angehörige vor der „Qual der Entscheidung" bewahrt werden.
Von solchen Situationen berichtete gestern der Grünen-Abgeordnete und Arzt Armin Grau. Er habe oft erlebt, wie hilflos Angehörige im Ernstfall seien. Oftmals werde die Spende aus Unsicherheit abgelehnt. Die Praxis sei „zutiefst unbefriedigend".
Dies betonte auch Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU), der gestern als Berichterstatter des Bundesrates geladen war. Dieser hatte bereits im Juni für den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes und zur Einführung der Widerspruchslösung votiert. „Ich möchte im Namen des Bundesrates wirklich darum bitten, dass Sie das in dieser Wahlperiode noch entscheiden – man braucht für diese Entscheidung auch keine Bundesregierung“, bekräftigte Laumann.
Gegen die Widerspruchslösung stellte sich gestern die FDP-Abgeordnete Kristine Lütke. Sie sieht die Grundrechte „zutiefst berührt“. „Das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper geht über den Tod hinaus“, sagte sie. „Schweigen ist keine Zustimmung". Zudem seien andere Möglichkeiten, um die Zahl der Spenderorgane zu erhöhen, noch nicht ausgeschöpft. So könnten etwa mehr Lebendspenden ermöglicht werden.
Eine ähnliche Ansicht vertrat der ehemalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). „Uns eint das Ziel – wir brauchen eine höhere Organspenderate“, sagte er. „Aber die Widerspruchslösung ist nicht die Lösung.“ Für ihn sei das Selbstbestimmungsrecht zentral. Es stehe nicht unter Vorbehalt. Schweigen könne keine Zustimmung sein. „Die Organspende soll bleiben, was sie ist: ein Geschenk aus Liebe zum Leben“, so Gröhe.
Auch Kirsten Kappert-Gonther (Grüne) sprach sich gestern gegen eine Einführung der Widerspruchsregelung zum jetzigen Zeitpunkt aus. Die Gesetze der letzten Legislatur entfalteten gerade erst ihre Wirkung, sagte sie. „Die Widerspruchsregelung taugt zudem nicht zu einer Erhöhung der Organspendezahlen“, betonte die Ärztin. „Sie ist eine Scheinlösung.“ Es gebe keine validen Daten, die zeigten, dass sie helfen könne, die Spenderate zu erhöhen.
Tatsächlich deutete eine aktuelle Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in eine ähnliche Richtung: Die Forschenden analysierten fünf Länder, die von einer Zustimmungsregel auf eine Widerspruchslösung umgestellt hatten (Argentinien, Chile, Schweden, Uruguay und Wales). Der Wechsel führte demnach zu einer nicht wesentlichen Erhöhung der tatsächlichen Organspenderaten.
Grund für die gestrige kontroverse Debatte waren – wie von Kappert-Gonther angedeutet – nicht nur unterschiedliche inhaltliche Ansichten, ob hierzulande eine Widerspruchsregelung statt wie derzeit eine Entscheidungsregelung bei der Organspende gelten solle.
Umstritten war auch das Anliegen der Unterstützerinnen und Unterstützer einer Neuregelung, ihren im Sommer vorgestellten „Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes – Einführung einer Widerspruchsregelung im Transplantationsgesetz“ noch in den wenigen verbleibenden Sitzungswochen vor den Neuwahlen zu debattieren.
Sie finde es äußerst fragwürdig, diese komplexe ethische Debatte noch zum jetzigen Zeitpunkt ins Parlament einzubringen, betonte beispielsweise Linda Heitmann (Grüne). Tatsächlich geht es um viel. Denn zur Debatte stehe ein Paradigmenwechsel in der Organspende in Deutschland.
Von der derzeit erforderlichen aktiven Zustimmung von potenziellen Spenderinnen und Spendern zu einer Organentnahme nach ihrem Tod solle auf eine automatische Kultur der Organspende umgestellt werden, der im Falle einer Ablehnung aktiv widersprochen werden müsse.
Für lauten Widerspruch und Entsetzen während der Debatte sorgte gestern der AfD-Abgeordnete Martin Sichert. Er warf den Antragstellenden unter anderem die Idee eines „Volkskörpers“ vor, an dem man sich im Sinne eines „Ersatzteillagers“ bedienen wolle. Die Widerspruchsregelung mache „Menschen zu Volkseigentum“, sagte er und unterstellte Geschäftemacherei bei der Organspende. Zudem griff er verbal Bundeskanzler Olaf Scholz an, der zu den rund 220 der 733 Abgeordneten des Parlaments gehört, die den Antrag unterstützen.
Zu den Unterzeichnern gehört auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Er betonte am Ende der Debatte, dass sich mit keiner Variante der Zustimmungsregelung das Problem der stagnierten Organspendezahlen lösen lasse. Die Widerspruchsregelung sei sicher nicht die Lösung, aber mit ihr habe man zumindest die Chance, die Zahlen zu erhöhen. „Wir müssen uns ehrlich machen“, sagte er, „ohne erklärten Willen kommen wir nicht weiter.“
Auch die Bundesärztekammer (BÄK) unterstützt die Einführung einer Widerspruchsregelung bei der Organspende. „Es ist ein positives Signal, dass der Bundestag über einen Gruppenantrag zur Einführung der Widerspruchslösung debattiert“, erklärte der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt.
Diese Regelung könne zu einem echten Mentalitätswandel in der Bevölkerung beitragen und so die Diskrepanz zwischen der hohen grundsätzlichen Spendebereitschaft und den tatsächlich niedrigen Spenderzahlen verringern. „Dabei bleibt die individuelle Entscheidungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger gewahrt – ein entscheidender Faktor für die breite Akzeptanz der Widerspruchslösung.“
Voraussetzung sei jedoch, so Reinhardt, dass umfassende und verständliche Informationen zur Organspende, zur Widerspruchsmöglichkeit sowie zu den entsprechenden Verfahren für alle leicht zugänglich seien. Die Ärzteschaft habe sich in den vergangenen Jahren wiederholt für die Einführung der Widerspruchslösung ausgesprochen, wie sie bereits in Ländern wie Frankreich, Irland, Italien, Österreich, Spanien und den Niederlanden gelte. Die Bundesärztekammer sehe darin nicht nur ein starkes Zeichen der Solidarität, sondern auch eine Chance für eine intensivere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem sensiblen Thema Organspende.
Der Entwurf ist nun an den Gesundheitsausschuss zur federführenden Beratung überwiesen. Üblicherweise steht dann noch eine Expertenanhörung an. Ob und wann vor den Neuwahlen noch eine zweite und dritte Lesung und damit finale Abstimmung ohne Fraktionszwang im Bundestag zustande kommt, ist noch unklar. Schließlich bleiben dem Parlament nicht mehr viele Sitzungswochen.
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