Politik

Rasche und tiefgreifende Reformen des Gesundheitssystems in neuer Legislatur gefordert

  • Donnerstag, 20. März 2025

Berlin – Wenige Tage nach Beginn der Koalitionsverhandlungen hat ein Autorentrio Vorschläge an die Politik zu dringend nötigen Strukturreformen im Gesundheitswesen vorgelegt. „Ich bin der festen Überzeugung, es bleiben jetzt gerade mal vier Jahre Zeit, um einen Turnaround zu schaffen. Danach wird es extrem schwer“, sagte der Intensivmediziner und Co-Autor Christian Karagiannidis gestern Abend in Berlin bei der Vorstellung der Ideen. 2030 sei es wahrscheinlich zu spät.

Mit Geld allein seien die Probleme nicht mehr lösbar, „auch nicht mit einem Sondervermögen“, sagte Karagiannidis. Er hat die Reformvorschläge zusammen mit Gesundheitsökonom Boris Augurzky und Mark Dominik Alscher vom Bosch Health Campus in dem Buch „Die Gesundheit der Zukunft“ (2025, Hirzel) vorgelegt. Als besonders dringende Veränderungen in der kommenden Legislaturperiode wurden bei der Veranstaltung etwa die Notfallreform und ein Gesundheitssicherstellungsgesetz hervorgehoben.

Bestandsaufnahme zu Fehlentwicklungen

Zu den Kernproblemen, die die Autoren sehen, gehören die hohen Kosten für das deutsche Gesundheitssystem: Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt liege bei 12,8 %, was man bei der Gewichtung des Themas im Wahlkampf aber nicht gemerkt habe, wie Augurzky sagte.

Die im Vergleich zu anderen Ländern hohe Zahl an Arztkontakten, Krankenhausbetten und Fällen führe jedoch nicht zu zufriedenstellenden Ergebnissen, etwa bei der durchschnittlichen Lebenserwartung. Hinzu kämen noch massiv gestiegene Therapiekosten.

Die Dringlichkeit für Reformen ergibt sich für das Trio aus dem demografischen Wandel: „Der demografische Tsunami rollt an“, heißt es im Buch. Dieser führe dazu, dass künftig nicht mehr ausreichend Menschen zur Verfügung stünden, um den altersbedingt steigenden Bedarfen gerecht zu werden.

Laut Prognosen, die die Autoren unter Berufung auf mehrere Institute vorlegen, drohen in Deutschland weitere Beitragssteigerungen, wodurch letztlich die internationale Wettbewerbsfähigkeit leide. Die Sozialabgaben (für GKV, soziale Pflegeversicherung, gesetzliche Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung) könnten demnach von derzeit rund 42 % bis 2030 auf rund 46 % und in zehn Jahren auf gut 51 % steigen. Augurzky sagte, mit einer so hohen Belastung könnten Betriebe nicht leben.

Eine weitere Negativentwicklung drohe bei der hausärztlichen Versorgung: Es müsse mit wachsenden Engpässen gerechnet werden. Eigene Analysen zeigten, dass in knapp einem Viertel der Landkreise bzw. kreisfreien Städte die hausärztliche Versorgung gefährdet sei, und in 12 % sogar stark gefährdet.

Was konkret vorgeschlagen wird

Etliche Potenziale, die das System effizienter machen könnten, würden bisher zu wenig ausgeschöpft, argumentieren die Autoren. Von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz (KI) über Patientensteuerung und Ambulantisierung bis hin zur Rolle von Pflegefachkräften. Es gelte, nicht die Preise, sondern die hohen Mengen im System zu senken, betonte Augurzky. Konkret schlägt das Team beispielsweise diese Veränderungen vor:

  • Einführung einer gedeckelten und sozial gestaffelten Eigenbeteiligung bei Inanspruchnahme von Leistungen. Davon soll Prävention ausgenommen sein. „Pro Jahr sollten die ersten Ausgaben für Gesundheitsdienstleistungen bis maximal zur Höhe von 1 % des beitragspflichtigen Einkommens selbst bezahlt werden“, heißt es. Bei 25.000 Euro Einkommen etwa läge die Grenze bei 250 Euro Zuzahlung, maximal soll sie für Menschen mit einem Einkommen ab der Beitragsbemessungsgrenze von derzeit 66.150 Euro rund 662 Euro betragen. Die Eigenbeteiligung soll Karagiannidis zufolge insbesondere dazu führen, dass Menschen nicht wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt gehen.

  • Zusammenführung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung „in einer längeren Übergangsphase“. Am naheliegendsten sei es, einen Versicherungsmarkt zu etablieren, auf dem Krankenversicherungen eine für alle Bürger gleiche, verpflichtende Basisversorgung anbieten und ergänzende Leistungsbereiche durch private Zusatzversicherungen abgedeckt werden können.

  • Überprüfung der Kosteneffizenz jeder medizinischen Maßnahme; zur Ausgabenbegrenzung im Arzneimittelbereich Optionen wie Mengenbegrenzung für bestimmte Eingriffe und Therapien, Nachjustierung bei Kosten-Nutzen-Analyse neuer Arzneimittel, Einschränkung des Orphan-Drug-Privilegs, Definierung von Preisgrenzen (wie viel darf ein neu zusätzlich gewonnenes Lebensjahr kosten?)

  • Primärarztsystem mit klarer Patientensteuerung. Mehr Generalistik statt direkt zum Spezialisten und mehr Hinterfragen, inwieweit das technisch Machbare auch medizinisch sinnvoll ist.

  • Die elektronische Patientenakte (ePA) wird als „ganz großer Schlüssel“ für ein modernes Gesundheitssystem bezeichnet. Sie könne beispielsweise zusammen mit Wearables wie Smartwatches an die Stelle bestimmter vierteljährlicher Routinekontrollen treten. Eine bessere Datenanalyse solle etwa durch Einführung einer unveränderbaren Nummer für jeden Bundesbürger für Aktivitäten im Gesundheitssystem ermöglicht werden.

  • Bei der Prävention den Fokus zunächst auf die großen Hebel legen: Rauchen sowie übermäßiger Konsum von Alkohol und Zucker. Vorgeschlagen wird etwa eine deutlich spürbare Steuererhöhung, wobei diese Einnahmen zweckgebunden in die Pflegeversicherung fließen sollen. Zudem wird etwa für ein Verbot von Einweg-E-Zigaretten und von Aromen in E-Zigaretten plädiert.

  • Möglichkeit der „fallabschließenden“ Behandlung durch Pflegefachpersonen, um die Zahl der Arztkontakte zu reduzieren.

  • für den Bündnisfall die Koordination der Steuerung von Verwundeten in die Hände des Sanitätsdienstes der Bundeswehr legen. Es brauche einen Netzwerkverbund mit klaren Zuständigkeiten.

Karagiannidis, Augurzky und Alscher sind im Buch um einen optimistischen Blick auf die Zukunft und einen Fokus auf Chancen bemüht. Gesundheit sei nicht nur ein Kostentreiber, betonte Alscher gestern. Als eine der großen Zukunftsbranchen habe sie auch das Potenzial, dass Deutschland sich auch wirtschaftlich wieder anders aufstellen könne.

Wie die ersten Reaktionen ausfielen

Während mehrere Fachleute aus dem Gesundheitswesen beispielsweise die Vorschläge zu mehr Patientensteuerung begrüßten, gab es zu anderen Punkten auch kritische Töne. Über die Vorstellungen der Autoren zur Umgestaltung des Versicherungsmarktes sagte der Vorstandschef der DAK-Gesundheit, Andreas Storm, dass dies nicht mit einem Fingerschnippen erreichbar sei. Der Gedanke, dass man sich in den nächsten vier Jahren darauf konzentriere, aus GKV und PKV einen einheitlichen Versicherungsmarkt zu machen, sei „mit Sicherheit ein Irrweg“, sagte er.

Wenn man eine Eigenbeteiligung einführen wolle, so müsse dies schrittweise geschehen – und mit einer besseren Systemeffizienz verbunden sein, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhalten, so Storm. Grundsätzlich sprach aber auch er sich dafür aus, dass der Umbau des Systems unbedingt in dieser Wahlperiode mit „einem sehr stringenten Zeitplan“ angegangen werden müsse, da man sonst im internationalen Vergleich drohe erheblich weiter zurückzufallen.

Bernhard Gibis, Leiter des Dezernats Sicherstellung und Versorgungsstruktur bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), sagte, er könne viele Punkte der Autoren nur unterschreiben und teile die Ungeduld. Man stecke in vielen Bereichen strukturell in den 1980er Jahren fest. Einige Aspekte fehlten ihm aber auch, etwa Problematiken wie Terminhandel durch große Plattformen und der Umgang mit nicht rein medizinischen Themen, mit denen Niedergelassene und Notfallmediziner konfrontiert seien.

Wohin es bei der ePA gehen sollte

Bei der ePA haben es in den vergangenen fünf Jahren „extreme Fortschritte“ gegeben, sagte Sylvia Thun, Direktorin Digitale Medizin und Interoperabilität am Berlin Institute of Health der Charité. Sie plädierte aber für Weiterentwicklungen hin zu einer „klugen ePA“, die zum Beispiel anhand von Gendiagnostik Dosierungen anpassen könne. Es brauche ein lebendiges, agiles System, das bei der Versorgung helfe – nicht nur eine Möglichkeit, Dokumente einzustellen und abzurufen.

„Das ist immer noch ein angstbesetztes Thema“, sagte die ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx über die ePA und Debatten um Risikominimierung und Datenschutz. Es sei wichtig, den Menschen zu vermitteln, dass es hier in Deutschland sehr verantwortungsvoll ablaufe und welche Chancen in der Datennutzung lägen. Man müsse die Nutzung zudem für alle Beteiligten bequem gestalten.

Buyx mahnte, dass man sich bei der Digitalisierung auch unabhängig von den USA machen müsse. Im Bereich der medizinischen Forschung sei das möglich, sagte Buyx und berief sich auf einen IT-Experten. „Wir könnten gesamte Plattformen bauen für diese datengetriebene Forschung in Deutschland. Hier, mit unseren Daten, mit unseren Systemen, (...) mit den Expertinnen und Experten, die wir haben.“

Jens Scholz, CEO des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein und Vorsitzender des Verbandes der Universitätsklinika Deutschland (VUD), plädierte für mehr Regulatorik in der Digitalisierung zugunsten funktionierender Strukturen und Datenverfügbarkeit. Ein Gesetzgeber könne gewisse Vorgaben machen, das zeigten Beispiele aus anderen Lebensbereichen.

Stationärer Sektor vor mehreren Herausforderungen

Mit Blick auf mögliche Verbesserungen der Krankenhausversorgung sagte der Grünen-Politiker Janosch Dahmen, dass die Krankenhaus- und die noch ausstehende, aber dringend nötige Notfallreform „zwei Seiten einer Walnuss“ seien. Wenn die Krankenhausreform wirken solle, in Hinblick auf bessere Qualität und mehr Effizienz, dann gehe dies nur mit der zweiten Hälfte, mit der Notfallreform.

Ein relevanter Anteil der Fehlsteuerung passiere über die Notfallversorgung, betonte Dahmen. Die Widerstände gegen Veränderungen seien allerdings „erheblich“, betonte er – noch größer als bei der Krankenhausreform. Es sei eine Mammutaufgabe, diese Reform durchzubringen. Die drei Autoren sprechen in ihrem Buch konkret vom Problem der Besitzstandswahrung im System.

Hinzu kommt die geopolitische Lage. „Das Gesundheitssystem ist nicht gut vorbereitet auf einen eventuellen NATO-Bündnisfall“, sagte Karagiannidis. Mit Fragen rund um ein Gesundheitssicherstellungsgesetz müsse man sich in der kommenden Legislaturperiode beschäftigen, sagte Gesa Miehe-Nordmeyer, Leiterin der Abteilung für Sozial-, Gesundheits-, Arbeitsmarkt-, Umwelt- und Gesellschaftspolitik beim Bundeskanzleramt. Sie sprach von einem „dicken Brett“, das gebohrt werden müsse.

Eine der Lehren der vergangenen Jahre sei, dass die Politik konkrete Vorschläge brauche, begründete Karagiannidis das Buch. „Das, was auf der Metaebene bleibt, das versickert ganz häufig.“ Er und Augurzky sind Mitglieder der Regierungskommission Krankenhaus. Der Intensivmediziner räumte aber auch ein, dass man zum Beispiel zum Thema Versorgung der Babyboomer-Generation in der Altenpflege keine Lösung gefunden habe.

In den Koalitionsverhandlungen von Union und SPD stehen noch konkrete Klärungen zur Gesundheit an. Im Sondierungsergebnis hatte es zu dem Thema nur kurze, allgemeine Äußerungen gegeben, wie: „Die Gesundheitsversorgung muss für alle gesichert bleiben.“

ggr

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