Reform der Pflegeversicherung muss Reduzierung der Ausgaben beinhalten

Berlin – Die gesetzliche Pflegeversicherung braucht 30 Jahre nach ihrer Gründung eine grundsätzliche Strukturreform. Darin waren sich Fachleute bei den Rosenthaler Gesprächen des AOK-Bundesverbands in Berlin einig.
„Die Pflegeversicherung ist eine Erfolgsgeschichte“, sagte Thomas Klie, Leiter des Instituts AGP Sozialforschung und des Zentrums für zivilgesellschaftliches Engagement (zze). Mit ihrer Gründung habe die Politik vor 30 Jahren in unruhigen Zeiten sozialpolitisches Profil bewiesen. Allerdings benötige die Pflege nun eine Neuausrichtung.
„Heute ist die Grundlage der umlagefinanzierten Pflegeversicherung in Gefahr“, betonte Klie. Immer mehr Menschen aus der Generation der Babyboomer würden künftig pflegebedürftig werden. Zudem nehme die Zahl der Einpersonenhaushalte zu.
Darüber hinaus habe es in der Pflegeversicherung über die Jahre viele Leistungsausweitungen geben: „so viele, dass man heute gar nicht mehr weiß, was es alles gibt“, so Klie. „Der Bauchladen der Pflegeversicherung ist nicht unkompliziert und nicht konsistent.“ Es gebe aktuell dabei auch deshalb so viele Leistungsempfänger, weil es entstigmatisiert sei, Leistungen aus der Pflegeversicherung zu beziehen.
Pflege ist demokratierelevant
Problematisch sei insbesondere der Fachkräftemangel in der Pflege. Mittlerweile gebe es mehr Menschen, die den Pflegeberuf verließen als nachkämen.
In zahlreichen Pflegeheimen gebe es Leerstände, weil es nicht genügend Pflegekräfte gebe. Die Folge sei unter anderem ein unregulierter Anbietermarkt. „Die Anbieter können sich aussuchen, wen sie als Kunden nehmen wollen. Das ist eine stille Triage“, betonte Klie. „Da müssen wir hingucken.“
„Im Vordergrund muss die Versorgungssicherheit stehen“, betonte der Wissenschaftler. „Und die ist in Gefahr.“ Dabei sei die Pflege ein demokratierelevantes Thema. Sie sei auch wichtiger für die Menschen als das Thema Zuwanderung.
„Die Zuwanderung ist eine Projektionsfläche für Alltagsprobleme, die wir nicht bewältigt bekommen“, meinte Klie. „Die Pflege ist das Hauptproblem. Das Systemvertrauen hängt von der Pflege vor Ort ab.“ Die Bevölkerung sei in hohem Maße irritiert, dass sie vor Ort pflegerisch nicht mehr ausreichend versorgt werde. „Das müssen wir ernstnehmen“, forderte Klie.
Ausgaben reduzieren
Die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Carola Reimann, bezeichnete es als gute Botschaft, dass der Bund bei der Finanzierung der Pflegeversicherung Verantwortung übernehmen wolle.
Bei den Verhandlungen zwischen Union und SPD hat die Arbeitsgruppe „Gesundheit und Pflege“ in ihrem finalen Text vor kurzem erklärt, dass eine langfristige Stabilisierung der finanziellen Lage der Pflegeversicherung nur möglich sei, indem der Bund versicherungsfremde Leistungen wie die Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige und die Ausbildungsumlage übernehme.
„Kurzfristig werden während der Coronapandemie entnommene Gelder aus dem Ausgleichsfonds zurückerstattet“, heißt es weiter.
Aus Sicht von Reimann fehlen aber Reformideen auf der Ausgabenseite. „Es fehlt die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann“, sagte sie. „Es wäre angezeigt, die Ausgaben an den Einnahmen zu orientieren.“
Um das Problem des Fachkräftemangels in der Pflege zu lösen, komme den Kommunen eine ganz wichtige Aufgabe zu, meinte Reimann. Die Quartiere in den Kommunen müssten anders genutzt werden. „Es gibt eine hohe Bereitschaft der Menschen, sich ehrenamtlich zu engagieren“, sagte sie. „Die Kommunen müssen diese Bereitschaft im Rahmen eines Quartiersmanagement organisieren.“
Der Oberbürgermeister von Potsdam, Mike Schubert (SPD), warnte hingegen davor, zu stark auf das Ehrenamt zu setzen. „Das Setzen auf das Ehrenamt ist ein Setzen auf das Prinzip Hoffnung“, meinte er. „Wenn die Politik schon über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht nachdenkt, hätte ich mir gewünscht, dass sie auch den Mut hat, diese Ideen auf den Sozialbereich zu erweitern. Bei der Pflege nur auf Altruismus zu setzen, halte ich für gefährlich.“
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