Sachverständige legen Maßnahmenpaket zur Dämpfung der Arzneimittelausgaben vor

Berlin – Es werde zu einer Überforderung des Gesundheitssystems kommen, wenn die bisherige Systematik der Bewertung und Bepreisung innovativer Arzneimittel unverändert fortgesetzt wird. Davor warnte heute der Sachverständigenrat (SVR) Gesundheit und Pflege.
Die Sachverständigen legten ein Gutachten mit möglichen Maßnahmen vor, die aus Sicht der Experten einen weiteren Anstieg der Arzneimittelausgaben begrenzen sowie zugleich eine gute Versorgung mit Medikamenten sichern könnten.
Man wolle Wege aufzeigen, um auch künftig allen Patientinnen und Patienten in Deutschland innovative Arzneimittel zur Verfügung stellen zu können, betonte Michael Hallek, Vorsitzender des SVR Gesundheit und Pflege. In dieser Hinsicht habe das Gutachten eine „enorme Bedeutung“.
Die Sachverständigen plädieren unter anderem dafür, einen zentralen Punkt des AMNOG-Verfahrens, das auf das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) zurückgeht, anzupassen. Derzeit gilt in den ersten sechs Monaten nach Markteintritt eines Arzneimittels der vom Hersteller festgelegte Preis – der nach der Zusatznutzenbewertung verhandelte GKV-Erstattungsbetrag gilt rückwirkend ab dem siebten Monat nach Markteintritt.
Der SVR empfiehlt, einen extern festgelegten Interimspreis einzuführen, der sich – bis auf begründete Ausnahmen – an den Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie orientiert. Die Differenz zwischen dem zunächst festgelegten Interimspreis und dem später verhandelten Erstattungsbetrag würde dann rückwirkend für den Zeitraum ab der Markteinführung ausgeglichen.
SVR-Mitglied Nils Gutacker verwies darauf, dass der aktuell noch frei wählbare Initialpreis in den Preisverhandlungen zwar eigentlich kein Kriterium der Preisverhandlungen sein sollte, die „psychologische Ankerwirkung“ aber nicht zu unterschätzen sei. Zudem müsse die Position der Krankenkassen innerhalb des Preisverhandlungsmechanismus gestärkt werden, so Gutacker.
Im Gutachten heißt es dazu, der GKV-Spitzenverband könne sich nicht gegen die in der Regel garantierte Erstattungsfähigkeit neuer Arzneimittel entscheiden, sondern müsse sich mit dem pharmazeutischen Unternehmen auf einen Preis einigen oder die Preisfestsetzung durch die zuständige Schiedsstelle akzeptieren. Hingegen habe das Unternehmen jederzeit die Möglichkeit, das jeweilige Arzneimittel vom Markt zu nehmen. So entstehe eine „Asymmetrie der Verhandlungsmacht“.
Deshalb solle dem GKV-Spitzenverband ermöglicht werden, nach eingehender Betrachtung der Evidenz über die Erstattungsfähigkeit zu entscheiden und gegebenenfalls von den Preisverhandlungen zurückzutreten. Hierbei sollen neben dem Zusatznutzen auch der geforderte Preis des Arzneimittels sowie das Vorhandensein verfügbarer Behandlungsalternativen berücksichtigt werden. Weiterhin empfiehlt der Rat, wirkstoffübergreifende Ausschreibungen zu ermöglichen, wenn mehrere gleichwertige Arzneimittel auf dem Markt verfügbar sind.
Der SVR empfiehlt außerdem, die Preise innovativer Arzneimittel noch konsequenter an deren Zusatznutzen zu koppeln. Dies solle „über den gesamten Lebenszyklus eines Arzneimittels hinweg“ erfolgen, betonte SVR-Mitglied Jochen Schmitt. Der dem Preis zugrunde liegende Zusatznutzen solle durch regelmäßige Re-Evaluationen überprüft und wenn nötig neu bestimmt werden.
Um die dafür notwendige Evidenzgenerierung abzusichern, sollen die systematischen Anreize für pharmazeutische Unternehmen zur Studiendurchführung gestärkt und das „effizient umstrukturierte“ Instrument der anwendungsbegleitenden Datenerhebung (AbD) genutzt werden. Bei hohem Erkenntnisinteresse der Solidargemeinschaft sollten nach Einschätzung des SVR aber auch industrieunabhängige Studien durchgeführt werden, für die der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) gezielt Fördermittel bereitstellt.
Sonderstatus von Orphan Drugs abschaffen
Ebenfalls unter die Lupe nimmt der SVR den Sonderstatus der sogenannten Orphan Drugs – also von Medikamenten, die für seltene Erkrankungen entwickelt und zugelassen werden.
Für diese wird aktuell bereits mit der Zulassung von einem fiktiven Zusatznutzen ausgegangen und es findet keine reguläre Zusatznutzenbewertung statt. Der Rat empfiehlt, dieses Privileg abzuschaffen. Statt einer Sonderrolle in der Bewertung solle der Orphan-Drug-Status im Rahmen der Preisbildung berücksichtigt werden.
Vom SVR wird zusätzlich die Einführung eines jährlich anzupassenden Arzneimittelbudgets für patentgeschützte, hochpreisige Arzneimittel vorgeschlagen, welches sich beispielsweise an Veränderungen des Bruttoinlandsprodukts orientieren könnte.
Bei Überschreitung der Budgetgrenze würden dann einheitliche, prospektiv festgelegte prozentuale Preisabschläge auf alle eingeschlossenen Arzneimittel anfallen, sodass die Preisrelationen zwischen den vom G-BA festgelegten Zusatznutzenkategorien bestehen blieben. Generika sowie Arzneimittel, die als besonders förderungswürdig angesehen werden, sollen von dem Budget ausgenommen werden.
Bei teuren Einmalgaben, bei denen der Therapieerfolg gewissen Unsicherheiten unterliegt, sollte laut dem SVR stärker auf den Einsatz von erfolgsabhängigen Vergütungsmodellen (sogenannte Pay-for-Performance-Modelle) gesetzt werden.
Maßnahmen mit Standortförderung koppeln
All diese vorgeschlagenen Maßnahmen sollten mit einer verbesserten Standortförderung für pharmazeutische Unternehmen verbunden werden, sagte SVR-Mitglied Leonie Sundmacher.
Als in diesem Sinne zielführend habe man im Gutachten Verbesserungen bei der Güte des biomedizinischen Forschungsstandorts (Verfügbarkeit qualifizierter Fachkräfte sowie öffentlich geförderte Grundlagenforschung) und bei den Rahmenbedingungen für die schnelle und effiziente Durchführung klinischer Studien identifiziert.
Die im Medizinforschungsgesetz vorgesehene Kopplung von Arzneimittelpreisen an Standortentscheidungen für klinische Forschung in Deutschland sei „nicht zielführend“, warnte Sundmacher.
Für die Standortförderung von pharmazeutischen Unternehmen empfiehlt der SVR die Entlastung von unnötiger Bürokratie sowie steuerfinanzierte Fördermaßnahmen. Unbedingt erfolgen sollte zudem der Ausbau einer vernetzten, digitalen Forschungsdateninfrastruktur. Für besonders vielversprechend hält der Rat die Etablierung einer zentralen Anlaufstelle für die reibungslose Initiierung klinischer Studien.
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) dankte dem Sachverständigenrat für die „wertvollen Hinweise“. Das Gutachten widme sich einem sehr schwierigen Thema, da eine Balance zwischen attraktivem Pharmastandort und schnellem Arzneimittelzugang einerseits sowie einer Dämpfung der Preisentwicklung andererseits erforderlich sei. Man werde die unterbreiteten Vorschläge nun analysieren und sich dazu mit dem SVR austauschen.
Vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) hieß es, die vorgeschlagene „drastische Verschärfung des Umgangs mit seltenen Erkrankungen würde zu einer massiven Gefährdung der Versorgung in einem besonders sensiblen Bereich führen“. Eine Einführung eines Gesamtbudgets für innovative Arzneimittel werde in der Konsequenz zu Rationierung führen. Als richtig bewertet der vfa hingegen die vorgeschlagene Stärkung innovativer Erstattungsmodelle wie Pay-for-Performance.
Kritik am Gutachten übte auch der Verband Pharma Deutschland. „Dort, wo Forschung, Entwicklung und Versorgung auf hohem Niveau stattfinden sollen, braucht es ein verlässliches wirtschaftliches Fundament – dazu gehört auch eine faire und innovationsfreundliche Preisgestaltung mit gesamtwirtschaftlichem Blick und nicht nur die Abbildung einer lang bekannten Wunschliste der Kostenträger“, sagte Dorothee Brakmann, Hauptgeschäftsführerin von Pharma Deutschland.
Eine Abkopplung von Preisen und Investitionen werde langfristig die Versorgungssicherheit, die Forschungsqualität und die Produktionskapazitäten in Deutschland und Europa weiter beeinträchtigen, warnte Brakmann. Die im Gutachten empfohlenen Maßnahmen wie beispielsweise Bürokratieentlastungen reichten nicht aus, die Situation zu verbessern.
Zustimmung kam hingegen von Jens Martin Hoyer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. Angesichts der Ausgabendynamik in der Arzneimittelversorgung brauche man zeitnah Maßnahmen für mehr Effizienz und Wirtschaftlichkeit.
„Die mit dem Gutachten vorliegende klare Aufforderung für eine dynamische, bedarfsgerechte Preisbildung einerseits und die ebenso klare Absage an eine Standortförderung auf GKV-Kosten auf der anderen Seite ist sehr zu begrüßen. Dies sollte auch Basis der kommenden politischen Diskussionen im Rahmen des Pharma-Dialogs sein“, betonte Hoyer.
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