Sorge um eingeschränkte Verfügbarkeit von Metformin

Berlin – Ärzteverbände sind in Sorge, dass eine Umsetzung der EU-Kommunalabwasserrichtlinie (kurz: KARL) die Patientenversorgung in Deutschland verschlechtern könnte. Die Richtlinie sieht vor, dass die Pharma- und die Kosmetikindustrie 80 Prozent der Kosten tragen sollen, die bei einer vorgesehenen Umrüstung von Kläranlagen entstehen.
Durch diese Umrüstung auf eine vierte Reinigungsstufe sollen Rückstände von Arzneimitteln und Kosmetika aus dem Abwasser entfernt werden. Pharmaverbände weisen darauf hin, dass die Kosten für die Produktion von Generika dadurch so stark steigen würden, dass zum Beispiel Generika wie Metformin nicht mehr kostendeckend hergestellt werden könnten und vom Markt genommen werden müssten.
„Eine eingeschränkte Verfügbarkeit von Metformin hätte weitreichende Folgen“, sagte der Mediensprecher der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), Baptist Gallwitz, dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ). Neben höheren Tagestherapiekosten für alternative Präparate wären zusätzliche Belastungen für das Gesundheitssystem zu erwarten – etwa durch notwendige Behandlungsumstellungen, häufigere Arztbesuche, zusätzliche Untersuchungen, Laborkontrollen und Patientenschulungen.
Metformin werde seit 2011 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als „essenzielles Medikament“ eingestuft, erläuterte Gallwitz. Es werde in zahlreichen nationalen und internationalen Leitlinien als medikamentöse Erstlinientherapie bei Diabetes mellitus Typ 2 aufgeführt.
Auch im Disease-Management-Programm (DMP) für Typ-2-Diabetes werde Metformin als medikamentöse Erstlinientherapie genannt. „In Deutschland erhalten circa 2,9 Millionen Menschen mit Typ-2-Diabetes entsprechend circa 75 Prozent aller mit Medikamenten behandelten Menschen mit Typ-2-Diabetes Metformin“, so Gallwitz.
„Dann müssten wir Metformin vom Markt nehmen“
Der Pharmaverband Pro Generika hat vor kurzem auf Zahlen verwiesen, denen zufolge eine Umrüstung der Klärwerke etwa eine Milliarde Euro jährlich kosten werde. Für Metformin bedeute das, dass sich die Produktionskosten um das 4,5 Fache erhöhen könnten.
Pro Generika zitiert den Geschäftsführer des Generikaherstellers Zentiva, Josip Mestrovic, mit den Worten: „Wenn das wirklich so kommt und sich nichts ändert, werden wir Metformin vom Markt nehmen müssen.“ Zentiva produziert Pro Generika zufolge etwa 40 Prozent des in Deutschland benötigten Metformin.
„Fällt Zentiva weg, müssten andere Hersteller einspringen. Doch auch für sie würde der Kostenanteil steigen, so dass auch sie den Markt verlassen müssten“, schreibt Pro Generika. „Das Ergebnis wäre: ein flächendeckender Versorgungsengpass.“
Ein anderes Unternehmen, das Metformin produziert, ist Juta Pharma. Es sei noch zu früh, um zu sagen, ob KARL zu Produktrücknahmen führen werde, sagte der Geschäftsführer von Juta Pharma, Torben Jung Laursen, auf Nachfrage.
„Aber KARL wird mit Sicherheit zu höheren Preisen oder geringeren Rabatten bei Ausschreibungen der Krankenkassen führen, da es sich um erhebliche Mehrkosten handelt, die wir nicht tragen können. Dies gilt für alle Produkte, die wir führen, sodass die Kosten für die Krankenkassen durch KARL steigen werden“, sagte Jung Laursen.
Keine echte Alternative zu Metformin
Gallwitz von der DDG machte deutlich, dass derzeit keine Alternativen mit einem gleichen pharmakologischen Wirkmechanismus zu Metformin existieren. „Als generisch verfügbare, oral wirksame Präparate mit ähnlichen Arzneimittelkosten können Sulfonlyharnstoffe eingesetzt werden. Im Gegensatz zu Metformin stimulieren sie jedoch die Insulinfreisetzung, was mit einem erhöhten Risiko für Hypoglykämien einhergeht“, erklärte der Mediziner.
Daher müssten Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige beziehungsweise Pflegepersonen speziell über Symptome, Risiken und Behandlungsmöglichkeiten von Hypoglykämien aufgeklärt und geschult werden.
Gallwitz betonte, Stoffwechselselbstkontrollen seien unter dieser Therapie essenziell und sie verursachten zusätzliche Therapiekosten. „Sulfonlyharnstoffe zeigen zudem im Gegensatz zu Metformin keine günstigen Endpunktdaten auf vaskuläre Endpunkte und gehen häufig mit einer Körpergewichtszunahme einher“, erklärte er.
Weitere orale einsetzbare Medikamente seien DPP-4 Inhibitoren, die – wie Metformin – kein intrinsisches Hypoglykämierisiko hätten. Die Tagestherapiekosten lägen bei etwa einem Euro und damit über denen von Metformin, das circa 20 Cent koste. Auch eine Monotherapie mit SGLT-2-Inhibitoren sei möglich, die allerdings derzeit meist in Kombination mit Metformin eingesetzt werden.
„Diese Wirkstoffgruppe hat ebenfalls kein intrinsisches Hypoglykämierisiko, sie zeigt jedoch im Gegensatz zu DPP4-Inhibitoren signifikante Vorteile auf kardiorenale Endpunkte“, sagte Gallwitz. „Die Tagestherapiekosten liegen bei etwa 2,30 Euro.“
Als weitere, jedoch deutlich kostenintensivere Alternativen kämen auch zu injizierende Therapien mit GLP-1-Agonisten oder Insulin in Frage. Vor diesem Hintergrund appelliere die DDG nachdrücklich an Pharmaunternehmen, Kostenträger und die Gesundheitspolitik, gemeinsam Lösungen zu finden, um die Verfügbarkeit des zentralen Arzneimittels Metformin auch künftig sicherzustellen.
Sorge vor „echter Versorgungskrise“
Ähnlich äußerte sich heute die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM). Arzneimittelhersteller hätten bekannt gegeben, dass verschiedene Medikamente bei einer Umsetzung der Kommunalabwasserrichtlinie nicht mehr wirtschaftlich hergestellt werden könnten und dass sie die Medikamente eher vom Markt nehmen würden, wenn es bei der Richtlinie bleibe. Betroffen wären insbesondere Metformin, das Antibiotikum Amoxicillin und das Brustkrebsmedikament Tamoxifen, so die DEGAM.
„Wenn die Pharmahersteller ihre Drohung wahrmachen, wird es zu einer echten Versorgungskrise kommen. Die betreffenden Arzneimittel gehören zu den von der WHO definierten essenziellen Arzneimittel, ohne die eine leitliniengerechte Therapie in Zukunft nicht mehr möglich wäre“, erklärte der Präsident der DEGAM, Martin Scherer.
„Als wissenschaftliche Fachgesellschaft ist es unsere Aufgabe, auf die absehbare Verschlechterung in der medizinischen Versorgung hinzuweisen und alle Beteiligten aufzufordern, hier sinnvolle Lösungen zu entwickeln. Die beiden Rechtsgüter ‚Gewässerschutz‘ und ‚Verfügbarkeit von Arzneimitteln‘ dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.“
Auch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hat sich zu der Situation geäußert. „Es ist davon auszugehen, dass sich die Regelungen der Kommunalabwasserrichtlinie auch auf die Arzneimittel auswirken werden. In welchem Umfang einzelne Arzneimittel betroffen sein werden, ist von zahlreichen Faktoren abhängig, die derzeit noch analysiert werden“, erklärte das BMG.
Deutschland habe der Richtlinie im Europäischen Rat Anfang November 2024 unter Abgabe einer Protokollerklärung zugestimmt. „Darin werden Bedenken hinsichtlich der Versorgung mit generischen Arzneimitteln und möglicherweise entstehender Mehrbelastungen der Krankenkassen adressiert“, so das BMG.
„Die Europäische Kommission wurde aufgefordert, bei sich abzeichnenden negativen Auswirkungen, insbesondere Lieferengpässen und Marktaustritten bei versorgungskritischen Arzneimitteln sowie bei relevanten Mehrbelastungen der Krankenkassen infolge der Richtlinie, zeitnah Maßnahmen zu ergreifen, um die Versorgung der Patientinnen und Patienten sicherzustellen.“
Neue Kostenanalyse
Die EU hat mittlerweile auf die Bedenken der Industrie reagiert. „In einem ersten Schritt haben wir als Europäisches Parlament die Kommission aufgefordert, eine erneute Kostenanalyse durchzuführen“, erklärte Peter Liese (EVP), Arzt und Mitglied des Europäischen Parlaments, dem Deutschen Ärzteblatt. „Der Gesundheitskommissar hat zugesagt, diese Prüfung durchzuführen.“
Er selbst sehe die neue EU-Abwasserrichtlinie durchaus mit Sorge, erklärte Liese. Denn neben der Frage der Verfügbarkeit der Arzneimittel sei auch die Produktion in Europa wichtig, „die wir stärken wollen“.
„Besonders wichtig war mir, dass eine Kostenbeteiligung der Öffentlichen Hand notwendig ist, damit die Betreiber der Kläranlagen angehalten sind, die Kosten zu minimieren, und nicht nach dem Verfahren ‚Das zahlt ja ein anderer – da können wir also großzügig sein‘ verfahren. Trotzdem sehe ich die Verlautbarung der Unternehmen nicht unkritisch. Die Berechnungen sind aus Sicht vieler unabhängiger Experten übertrieben.“ Deshalb sei es richtig, die Zahlen so schnell wie möglich noch einmal zu prüfen. „Dann müssen wir weitere Schritte überlegen“, so Liese.
Höheres Preisniveau für Generika wäre möglich
Der Gesundheitsökonom und Arzneimittelexperte Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld wies auf Nachfrage darauf hin, dass die Preise für Generika gesetzlich nicht so fixiert seien, wie es in der Diskussion den Anschein erwecke.
„Erstattet werden von den Krankenkassen bei Generika nur die Festbeträge, aber die werden regelmäßig aktualisiert“, sagte Greiner. Insofern könne es eine gewisse Übergangszeit geben, in der die Patienten zuzahlen müssten, wenn sich Preise erhöhten, aber nach dieser Periode würde sich das System auf höherem Preisniveau wieder einschwingen.
„Um zeitweilige Übertreibungen bei der Findung der höheren Preise zu vermeiden, könnten Ausschreibungen helfen, faire Wettbewerbspreise unter Einbeziehung der neuen Herstellungskostenkomponenten zu finden“, erklärte Greiner.
Grundsätzlich bewertet er die Idee der Abwasserrichtlinie als ökonomisch richtig, eine verursachungsgerechte Kostenverteilung einzuführen. „Wir operieren sonst mit niedrigen Preisen, die nicht die Gesamtkosten der Produktion – zu denen eben auch die Entsorgung gehört – umfasst und diese teilweise auf die Allgemeinheit abwälzt“, so Greiner. „Zudem gibt es keinen Anreiz, Ersatzstoffe zu finden, die die Kläranlagen weniger belasten würden.“
Allerdings stelle sich die Frage, ob diese Form der Kostentragung effizient sei. Denn wenn ohnehin die Gesamtbevölkerung – potenziell – die Produkte nutze und zudem die Wirkstoffe kaum durch in der Gesamtbilanz günstigere Produkte zu ersetzen seien, „könnte man die Kosten vermutlich weniger aufwändig durch die Abwassergebühren wie bisher erheben“.
Der Geschäftsführer von Pro Generika, Bork Bretthauer, befürwortet die derzeitige Entwicklung in Brüssel. „Das Parlament hat verstanden: Die Kommunalabwasserrichtlinie darf so nicht kommen. Denn sie wird zu einem Tsunami an Engpässen führen. Das umweltpolitische Ziel des sauberen Wassers darf nicht auf Kosten der Versorgungssicherheit durchgesetzt werden.“
Eine mögliche Lösung wäre das Schweizer Modell: Dort werde die Finanzierung der vierten Reinigungsstufe durch einen allgemeinen „Abwasserpfennig“ geregelt – ein solidarisches System, das in Deutschland bei den bisherigen Klärstufen über die Abwassergebühren finanziert sei. „Eine solche Lösung könnte die gesellschaftspolitischen Ziele aus Umwelt- und Versorgungssicherheit miteinander vereinen“, sagte Bretthauer.
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