Politik

Steinmeier mahnt neue Bundesregierung und Bundestag zu Pandemieaufarbeitung

  • Freitag, 14. März 2025
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht bei einer Diskussionsveranstaltung über die gesellschaftlichen Nachwirkungen und Lehren aus der Coronazeit im Schloss Bellevue./ picture alliance, Bernd von Jutrczenka
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht bei einer Diskussionsveranstaltung über die gesellschaftlichen Nachwirkungen und Lehren aus der Coronazeit im Schloss Bellevue./ picture alliance, Bernd von Jutrczenka

Berlin – Die Coronapandemie muss nach den Worten von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf bundespolitischer Ebene aufgearbeitet werden. Eine solche Aufarbeitung sei eine „riesige Chance für die Demokratie“. Er vertraue darauf, dass der neue Bundestag und eine neue Bundesregierung dies auch sehen werden, sagte das Staatsoberhaupt heute bei einer Gesprächsrunde über die gesellschaftlichen Nachwirkungen und Lehren aus der Coronazeit.

„Ich halte es für – offen gesagt – unabdingbar, dass Transparenz hergestellt wird, damit wir möglichst viele Menschen zurückgewinnen, die in der Zeit der Pandemie an der Demokratie, an den Institutionen gezweifelt haben“, sagte Steinmeier. Es gelte, Vertrauen zurückzugewinnen.

In Anbetracht der Ergebnisse der Bundestagswahl sei die Aufgabe vielleicht noch dringender und größer geworden. Zu den aufzuarbeitenden Fragen gehöre etwa, welche Maßnahmen sinnvoll waren und ob Grundrechtseinschränkungen unvermeidbar waren.

Zu der Veranstaltung hatte Steinmeier verschiedene Gäste ins Schloss Bellevue geladen. Dass in der vergangenen Legislatur keine Einigung zum Thema Aufarbeitung erzielt wurde, bedauere er. Er sei zwar überzeugt, dass Deutschland besser durch die Pandemie gekommen sei als viele andere Länder, aber sie habe auch hierzulande zu tief sitzenden Verletzungen geführt.

Maßnahmen seien notwendig gewesen, um Menschenleben zu retten. Aber die verhinderten Begegnungen seien auch eine Belastung für die Demokratie gewesen. Steinmeier sprach sich entschieden gegen eine Verdrängung jener Zeit aus. „Was wir nicht offen ansprechen, nährt einfach nur Verschwörungstheorien und neues Misstrauen.“

Dies spiele Populisten in die Hände. Eine politische Aufarbeitung dürfe aber nicht auf eine vordergründige Suche nach Schuldigen und Sündenböcken hinauslaufen, es gehe auch nicht um Rache und Vergeltung. Ziele müssten mehr Resilienz und Stärke für künftige Krisen und damit der Schutz der Demokratie sein.

Infektiologe für wissenschaftliche Aufarbeitung durch Externe

Steinmeier unterhielt sich mit seinen Gästen unter anderem über die gesellschaftlichen Veränderungen, die durch die Pandemie angestoßen wurden. Aus der Medizin war Charité-Infektiologe Leif Erik Sander vertreten. Er sagte zum Thema Aufarbeitung, er wünsche sich vor allen Dingen eine wissenschaftliche, systematische Analyse, um mit dem Wissen von heute Prozesse von damals bewerten zu können. Einen solchen „Kassensturz“ könnten nach seinen Worten am besten neutrale Personen vornehmen, die in Deutschland nicht involviert waren und damit nicht vor dem Dilemma stünden, sich auch selbst bewerten zu müssen.

Zu Auswirkungen der Pandemie berichtete Sander, dass einerseits das Bewusstsein in der Bevölkerung für gesundheitliche Zusammenhänge sowie für Gesundheit allgemein gestiegen seien. Andererseits sei eine Spaltung durch die Pandemie befeuert worden. Er bemerke auch im Alltag eine größeren Skepsis gegenüber der Medizin in einem Teil der Bevölkerung. Steinmeier und Sander waren sich einig, dass die Polarisierung auch durch eine verstärkte Nutzung sozialer Medien in der Pandemie zugenommen habe.

Eine nächste Pandemie werde „bestimmt anders werden“, sagte Sander. Falls es um einen Atemwegserreger gehen sollte, seien die Mechanismen nun etabliert, die Prozesse in den Gesundheitseinrichtungen eingespielt. Es könne aber auch ein anderer Übertragungsmodus kommen. Er mache sich zudem Gedanken über den spürbaren Fachkräftemangel und über andere mögliche Notlagen, auf die man sich im Gesundheitswesen dringlich vorbereiten müsse, so Sander.

Zum Thema Politikberatung schlug Sander für künftige Pandemien eine bessere Organisation der Vermittlung von Expertise und Kompetenz vor, etwa über Fachgesellschaften. Es gebe dann klar nachvollziehbare Protokolle. Er habe in der Coronapandemie mit vielen politischen Entscheidungsträgern, auch auf kommunaler Ebene, gesprochen, die sich oft breit informiert hätten. Allerdings sei auch ein „gewisses Geraune“ darüber entstanden, wer wem was und auf welcher Grundlage gesagt habe.

Schon grundlegende Annahmen würden infrage gestellt

Dass der politische Diskurs schwieriger geworden sei und ein Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse und empirische Ergebnisse nicht immer anerkannt werde, berichtete Ralf Broß, ehemaliger Oberbürgermeister von Rottweil, der jetzt beim Städtetag Baden-Württemberg tätig ist. Einen ähnlichen Befund äußerte Sander: Inzwischen würden in mehr Teilen der Bevölkerung wissenschaftliche Erkenntnisse und Meinungen gleichgesetzt. Wenn jedoch schon basale Annahmen infrage gestellt würden, werde die Kommunikation von Unsicherheiten deutlich erschwert.

Es dürfe nicht wieder passieren, dass sich Deutschland nicht selbst helfen könne, sagte Patrick Hahmann, Leiter eines ambulanten Pflegedienstes in Sachsen, mit Blick auf die monatelange Mangellage bei Schutzkleidung und Desinfektionsmittel in der Pandemie. Unverständlich sei für ihn bis heute etwa die anfängliche Priorisierung von Testmöglichkeiten: Fußballer seien vor dem Pflegepersonal dran gewesen. Er beurteilte auch die Diskussion um eine Impfpflicht als „überflüssig“.

Weitere Gäste aus Gastgewerbe/Gastronomie und Kultur berichteten etwa von einer gewachsenen Sensibilität und Vorsicht der Menschen infolge der Pandemie. Es gebe beispielsweise Ängste, wenn im Raum jemand huste, und Vorbehalte, einen Tisch mit Fremden zu teilen.

ggr

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