„Unangenehme politische Entscheidungen wurden den Virologen angelastet“
Berlin – Die Coronapandemie hat für das Gesundheitswesen und Ärzte aller Fachrichtungen große Veränderungen mit sich gebracht. Doch kaum ein Fachgebiet wurde so abrupt ins Licht der Öffentlichkeit katapultiert wie die Virologen. Das Deutsche Ärzteblatt (DÄ) sprach mit Hartmut Hengel, der am Universitätsklinikum Freiburg das Institut für Virologie leitet, über seine Erfahrungen in der Pandemie.

5 Fragen an Hartmut Hengel, Ärztlicher Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Freiburg
DÄ: Wie hat sich ihr Berufsalltag durch die Pandemie geändert?
Hartmut Hengel: Schon mit dem ersten SARS-CoV-2-Ausbruch in Deutschland wurde endgültig klar, dass dieses Virus pandemisches Potenzial besitzen und Deutschland für absehbare Zeit betreffen würde.
Seitdem hat sich der Alltag für alle Virologinnen und Virologen in der Medizin dramatisch verändert. Die Arbeit gegen die Pandemie hat nicht nur alles andere zurückgedrängt, sondern durch das erhöhte Arbeitsvolumen und die ständig wechselnden Herausforderungen alle Kräfte im Institut chronisch erschöpft.
Das Gefühl der neuen Wertschätzung unserer Arbeit durch die klinischen Kolleginnen und Kollegen und das Interesse der Öffentlichkeit hat die extremen Anstrengungen oft aufgewogen. Andererseits haben nicht alle sofort verstanden, in welcher existenziellen Ausnahmesituation wir sind, und dass auch im Labor das Leben von Patienten jeden Tag gerettet wird.
DÄ: Wie haben Sie das plötzlich verstärkte Interesse der Öffentlichkeit am Fachgebiet der Virologie erfahren?
Hengel: Das Interesse der Medien an unserem Fach ist gleichsam explodiert, tägliche Anfragen nach Interviews, Stellungnahmen und O-Tönen sind für uns ungewohnt und anstrengend. Das Medieninteresse ist durchaus ambivalent.
Einerseits hat so das Wissen der breiten Öffentlichkeit zu den elementaren Grundbegriffen der Infektionsmedizin und Epidemiologie sehr erfreulich zugenommen. Andererseits wurden aber unangenehme, politisch getroffene Entscheidungen in der Pandemiebekämpfung „der Virologie“ und „den Virologen“ angelastet.
Einige von uns Virologinnen und Virologen wurden in den Medien nicht nur als Fachwissenschaftler dargestellt, sondern eher als Celebrities inszeniert und vereinzelt persönlich attackiert. Die Wissenschaft wurde von den Medien nicht immer als ein vielschichtiger, kontroverser Prozess der Wahrheitssuche vermittelt, der die Unsicherheit der Aussage und den Irrtum notwendigerweise einschließt, sondern eher als ein jederzeit verfügbarer Vorratsspeicher selbstverständlicher Fakten. Hier gibt es noch sehr viel Aufklärungsarbeit zu leisten.
DÄ: Wie beurteilen Sie nach den vergangenen 12 Monaten das deutsche Gesundheitssystem?
Hengel: Die Pandemie hat die Defizite in unserem Gesundheits-, Bildungs- und Wissenschaftssystem ebenso schonungslos offengelegt wie in einigen Bereichen der Wirtschaft und der Politik. Als Stichworte genügen der beklagenswerte Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens, fehlende Hygienefachkräfte in Alten- und Pflegeheimen, die mangelhafte Digitalisierung, das Defizit an nachhaltigen Strukturen in der Hochschulmedizin und vernachlässigte Forschungsgebiete, z.B. moderne, wirkungsvolle Verfahren der Luftsterilisierung.
Ob wir aus diesen Erfahrungen der aktuellen Pandemie tatsächlich genügend gelernt haben wird sich in der nächsten Pandemie zeigen. Wir sollten uns nicht täuschen, Pandemien sind definitiv keine Jahrhundertereignisse und könnten jederzeit von Deutschland ausgehen. Ein molekularer Blick auf die Influenzaviren in der deutschen Schweinemast genügt.
DÄ: Welche Lehren lassen sich aus dieser Pandemie für die Forschung in Deutschland ziehen?
Hengel: Es hat sich gezeigt, dass bei den modernen molekularbiologischen Methoden in der Diagnostik (Stichwort PCR-Test und Genomsequenzierung) und in der Prävention (Stichwort mRNA-Impfstoffe) die wirklich entscheidenden Schlüssel für die erfolgreiche Pandemiekontrolle gelegen haben. Diese Errungenschaften verdanken wir jahrzehntelanger zweckfreier Grundlangenforschung.
Zum Glück hatten wir in Deutschland bereits vor der Pandemie eine sehr erfolgreiche Coronavirusforschung, von der das ganze Land jetzt profitiert. Das zeigt, wie wichtig eine hohe Biodiversität in der Infektionsforschung ist. Scheinbar bedeutungslose Viren können schon morgen als zoonotische Pandemieerreger auftreten. Daher ist breite Grundlagenforschung tatsächlich vielmals vorrausschauender als die so oft bemühte Anwendungsforschung.
Auch der hohe Wert der Forschungsinfrastruktur in der Hochschulmedizin wurde sehr deutlich, denn nur in den Hochsicherheitslaboren der Universitätskliniken mit virologischen Instituten konnten diagnostische Teste entwickelt und Virusisolate von Patienten gewonnen werden. Andererseits wurden eklatante Defizite deutlich, zum Beispiel fehlende Strukturen und mangelndes Problembewusstsein für die Bedeutung der molekularen Surveillance in Deutschland. Die jetzt vieldiskutierten Virusvarianten zeigen, dass wir an dieser Stelle neue Netzwerkstrukturen brauchen.
DÄ: Was muss für die Zukunft getan werden?
Hengel: Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Auch wenn wir in Deutschland bis zum Herbst eine weitgehende Kontrolle über das Virus erreicht haben, setzt sich das pandemische Geschehen in vielen Ländern fort, wo es keine ausreichenden Impfprogramme gibt. Dort werden vermutlich langfristig SARS-CoV-2 Varianten entstehen und regelmäßig zu uns importiert werden.
Diese Viren können dann immer wieder für Ausbrüche und schwere Infektionen sorgen. Daher müssen langfristige und nachhaltige Strategien der Viruskontrolle entwickelt werden, und die armen Länder müssen dabei von den reichen Ländern unterstützt werden, vor allem mit Impfstoffen und Wissen im Bereich des Public Health. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir dieses Ziel mit Hilfe leicht anpassbarer mRNA-Impfstoffe und einer gut organisierten weltweiten molekularen Surveillance erreichen werden.
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