Politik

Widerspruchsregelung liegt vorerst auf Eis

  • Donnerstag, 30. Januar 2025
/Destina, stock.adobe.com
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Berlin – Eine Reform der Organspende wird es in Deutschland in naher Zukunft nicht geben. Zumindest in dieser Legislaturperiode wird es nicht mehr zu einer Abstimmung im Parlament über eine mögliche Einführung einer Widerspruchsregelung kommen.

Nichtsdestotrotz wurde gestern Abend im Gesundheitsausschuss des Bundestages intensiv über die Möglich­keiten, die stagnierende Zahl an Organspenden in Deutschland zu erhöhen, diskutiert. Gegenstand der Anhörung waren eine fraktionsübergreifende Gesetzesinitiative mehrerer Bundestagsabgeordneter zur Einführung der Wider­spruchsregelung sowie ein Gesetzentwurf des Bundesrates mit gleicher Zielsetzung.

Bei der zweistündigen Befragung von Expertinnen und Experten aus Medizin, Ethik und Recht sowie von Be­troffenen zeigte sich abermals, wie sehr die Ansichten darüber, welchen Weg Deutschland bei der Organspende einschlagen sollte, auseinandergehen. Lediglich auf die gemeinsame Forderung, dass sich die Organspendenrate in Deutschland durch verstärkte Anstrengungen erhöhen müsse, konnte man sich verständigen.

Eindrucksvoll schilderte die Patientensprecher des Bündnisses ProTransplant, Zazie Knepper, die Dringlichkeit von Verbesserungen: „Es gibt ein großes Ausmaß von Elend in Deutschland. Wir sprechen nämlich eigentlich nicht nur von den 8.000 Menschen auf der Warteliste für ein Spenderorgan“, sagte sie, „sondern von 50.000 bis 60.000 Menschen, die auf ein Organ warten, aber gar nicht als dringlich gelistet werden.“

Das Bündnis ProTransplant, ein Zusammenschluss von 30 Patientenverbänden und Selbsthilfegruppen, fordert deshalb, das Recht der Wartepatienten auf Leben endlich in den Fokus zu stellen und den gescheiterten deutschen Sonderweg zu verlassen. Für viele endeten die langen Wartezeiten in Deutschland mit dem Tod. Die Betroffenen brauchten keine akademischen Debatten, sondern konkrete Hilfe, um am Leben zu bleiben, so Knepper.

Aus ärztlicher Sicht bekräftigte dies der Einzelsachverständige Bernhard Banas, Direktor der Abteilung für Nephrologie am Universitätsklinikum Regensburg: „Für Patienten mit einer terminalen Erkrankung des Herzens, der Lungen und der Leber ist alleinig eine erfolgreiche Organtransplantation die Alternative zum Tod“, betonte er. Nierenkranke hätten zwar als weitere Alternative die Dialysetherapie, die jedoch mit einer erheblichen Einbuße an Lebensqualität und Lebenszeit einhergehe.

Überlebenschancen niedriger als in Nachbarländern

In Deutschland sei jedoch eine Wartezeit zur Nierentransplantation von mehr als zehn Jahren quasi die Regel, so Banas. In anderen Ländern hätten die Menschen etwa die doppelte Wahrscheinlichkeit transplantiert zu werden.

„Deutsche Ärztinnen und Ärzte müssen damit im Aufklärungsgespräch zu einer Organtransplantation ihren Patienten regelhaft berichten, dass ihre Überlebenschancen nur 50 Prozent zu den Chancen von Patienten in Nachbarländern betragen“, sagte der Transplantationsmediziner. Einige Patienten liste man gar nicht, da man wisse, dass sie keinen vorderen Platz auf der Warteliste erreichen könnten.

Axel Rahmel von der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) verdeutlichte die deutsche Ausgangssitu­ation mit Zahlen: So seien Ende 2024 8.269 Patienten auf den Wartelisten der deutschen Transplantationszentren bei Eurotransplant „aktiv“ registriert. 5.770 Patienten wären als „nicht aktiv“ auf den Wartelisten registriert.

Dabei handele es sich um Patienten, die aktuell als nicht zu transplantieren eingestuft seien. „Insgesamt befinden sich also mehr als 14.000 Patienten aus Deutschland auf den Wartelisten zur Organtransplantation bei Eurotrans­plant“, so Rahmel. Dazu käme, dass von den knapp 100.000 Dialysepatienten in Deutschland etwa ein Drittel laut Expertenschätzungen ebenfalls von einer Transplantation profitieren könnte.

Doch die Zahl der Organspenderinnen und -spender stagniert in Deutschland laut DSO seit vielen Jahren. Im Jahr 2024 wurden 953 Organspenden realisiert und damit in etwa so viel wie im Jahr davor (965). „Mit 11,3 Spendern pro eine Million Einwohner liegt Deutschland im internationalen Vergleich im unteren Drittel“, verdeutlichte Rahmel.

Zum Vergleich: In Spanien seien im Jahr 2023 fast 50 Spender pro eine Million Einwohner realisiert worden. „Im Eurotransplant-Verbund ist Deutschland ebenfalls auf den hinteren Rängen“, so Rahmel weiter. Hinzu käme, dass Deutschland seit Jahren im Eurotransplant-Verbund als Nehmerland fungiere und mehr Organe bekomme als es abgebe. „Wir profitieren also von den Ländern aus dem Verbund, die eine Widerspruchsregelung haben.“

Auch wenn man keine sofortigen Erfolge sehen würde – aus Sicht der Bundesärztekammer kann die Einführung einer solchen Widerspruchsregelung auch in zu einem echten Mentalitätswandel in der Bevölkerung beitragen und so die Diskrepanz zwischen der hohen grundsätzlichen Spendebereitschaft und den tatsächlich niedrigen Spenderzahlen verringern.

Davon, dass dabei die individuelle Entscheidungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger gewahrt bleibe, sei die Bundesärztekammer überzeugt, sagte Claus-Dieter Middel, Leiter der Geschäftsstelle Transplantationsmedizin bei der Bundesärztekammer. „Eine Widerspruchsregelung stärkt die Patientenautonomie.“ Bislang bleiben viele Spendewünsche auch unerfüllt.

Nicht alle Mittel ausgeschöpft

Skeptisch darüber, ob eine Widerspruchsregelung zielführend sein könne und ob ihr Fehlen in Deutschland das Problem sei, zeigte sich Kevin Schulte vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. „Die Datenlage dazu ist un­einheitlich“, sagte er. So gebe es Studien, in denen einzelne Länder eine Zunahme der Organspendeaktivität nach Einführung der Widerspruchslösung gezeigt hätten. Es gebe aber auch Länder, in denen das nicht der Fall gewesen sei.

„Uns sollten vor allem die zweiteren Länder interessieren, weil die beweisen, dass die Einführung der Wider­spruchslösung kein Garant dafür ist, dass die Spendezahlen zunehmen“, sagte Schulte. Statt auf eine Wider­spruchs­regelung zu setzen, solle man vielmehr sein Augenmerk auf die verschiedenen deutschen Kliniken und ihre erheblichen Unterschiede bei gleichem Organspendepotenzial legen. Bei einigen Unikliniken seien die Organspendeaktivitäten mehr als zehnmal höher als bei anderen. „Es ist eine gefährliche Situation, die Widerspruchsregelung einzuführen, ohne eine genaue Ursachenanalyse zu betreiben“, betonte der Arzt.

„Es gibt mildere sowie noch nicht ausgeschöpfte Mittel und Verfahren, die geeigneter als die Widerspruchs­rege­lung wären“, meinte auch der Ethiker Peter Dabrock von der Universität Erlangen-Nürnberg. „Bevor nicht alles im Ansatz gemacht oder zumindest versucht wurde, ist die Einführung einer Widerspruchsregelung unverhältnis­mäßig.“

Dabrock hob dabei insbesondere auf das Selbstbestimmungsrecht ab. Schweigen könne in dieser fundamentalen Frage keine Zustimmung bedeuten. Zudem werde durch eine Widerspruchsregelung der bisher anerkannte Cha­rakter von freiwilliger Gabe unterminiert. Die Überforderung einiger Menschen fahrlässig ins Kalkül der Organ­allokation zu ziehen, wäre ethisch höchst fragwürdig.

Auch die Medizinethikerin Claudia Wiesemann von der Universitätsmedizin Göttingen sieht in der Widerspruchs­regelung einen „Eingriff in die Selbstbestimmung der Person über ihren eigenen Körper“. Als solche müsste diese besonders gerechtfertigt werden. Dies könnte die erhoffte deutliche Zunahme der Organspendezahlen sein. „Aber diese Hoffnung kann empirisch nicht belegt werden.“

Im Gegenteil müsse man sich sorgen, dass die Zahl der Lebendorganspenden parallel zurückgehen werde, so die Ärztin. „Die Widerspruchsregelung versucht das Problem an der falschen Stelle zu lösen.“ Hauptproblem in Deutschland sei nachgewiesenermaßen die mangelhafte Meldebereitschaft vieler Krankenhäuser, unterstützte Wiesemann die Ausführungen von Schulte.

Das geringe Engagement mancher Krankenhäuser werde vermutlich durch organisationsethische Probleme verursacht. „Lösungsversuche müssten hier ansetzen und nicht bei einem Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger“, so Wiesemann.

Auch die beiden christlichen Kirchen halten es für möglich, dass auch ohne eine Widerspruchsregelung die Zahl der Organtransplantationen erhöht werden kann, etwa durch eine Weiterentwicklung der geltenden Entschei­dungsregelung.

Sie erachten es als sinnvoll, den mit dem 2019 verabschiedeten Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende eingeführten Maßnahmen mehr Zeit zu geben, um ihre Wirkung zu entfalten. Gleiches gelte für die Wirkungen des im Jahr 2020 beschlossenen Gesetzes zur Stärkung der Entscheidungs­bereitschaft bei der Organspende.

„Die evangelische und die katholische Kirche in Deutschland unterstützten das Ziel des Gesetzentwurfs, die Zahl der Organspenden in Deutschland durch geeignete und zumutbare Maßnahmen zu erhöhen“, betonte Anne Gidi­on, Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Eine Einführung einer Wider­spruchsregelung würden die Kirchen aus grundsätzlichen Überlegungen hingegen kritisch gegenüberstehen.

„Bei der Regelung der Organspende sollte der Charakter einer freiwilligen Organspende im Sinne einer bewusst und höchstpersönlich getroffenen eigenen Entscheidung erhalten bleiben“, sagte sie. Diesem Charakter wider­spreche jedoch der juristische Kern einer gesetzlichen Widerspruchsregelung. Neben diesen grundsätzlichen Bedenken halten die Kirchen es für notwendig, den Blick stärker auf den Schutz vulnerabler Personengruppen zu richten.

Diese Notwendigkeit betonte auch Ulla Schmidt, Bundesgesundheitsministerin a. D. und Bundesvorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe. Es gebe einen Personenkreis, der mit seinen kognitiven Fähigkeiten im Grenzbereich liege und für den eine Widerspruchsregelung „schwierig“ sei.

Der Rechtswissenschaftler Steffen Augsberg von der Universität Gießen machte in der Anhörung zudem auch verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Widerspruchsregelung geltend, während nach Ansicht von Josef Franz Lindner von der Universität Augsburg gegen die Einführung einer Widerspruchsregelung keine verfassungsrecht­lichen Bedenken bestehen.

Von der Umsetzung einer Reform der Organspende ist Deutschland ab jetzt wieder ein Stück entfernt. Denn durch die Neuwahlen und das Ende der Legislaturperiode fallen die gestern in der Anhörung diskutierten Gesetzent­würfe unter das Diskontinui­tätsprinzip, das heißt, sie müssen in der nächsten Legislaturperiode erneut einge­bracht werden.

„Die Anhörung im Gesundheitsausschuss hat jedoch einen guten Abschluss der Diskussion zum Thema Wider­spruchsregelung in dieser Legislaturperiode gebildet“, bilanziert die Ärztin Tina Rudolph (SPD), eine der feder­führenden Unterstützerinnen des Gesetzentwurfs, heute im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt.

Auch wenn es jetzt nicht mehr zu einer Abstimmung im Parlament über eine Einführung der Widerspruchsrege­lung komme: „Es liegt nun für die nächste Legislatur ein gut ausgearbeiteter Gesetzentwurf vor, der sich auch differenziert mit Detailfragen auseinandersetzt“, sagte sie.

Vermutlich werde sich nach den Neuwahlen auch schneller wieder eine Gruppe von Abgeordneten zusammen­finden können, die diesen dann aufgreifen und neu in das parlamentarische Verfahren einbringen könne.

ER

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