Europäischer Depressionstag: Dauerkrisen und Belastung führen in die Erkrankung

Hildesheim – Depressionen, Angststörungen und andere psychische Erkrankungen nehmen seit Jahren zu – quer durch alle Altersgruppen und sozialen Schichten. „Grund dafür sind Dauerkrisen, von der Coronapandemie über wirtschaftliche Unsicherheiten, die Klimakrise bis hin zu militärischen Konflikten“, sagte Detlef E. Dietrich, Vertreter der European Depression Association (EDA) in Deutschland, anlässlich des 22. Europäischen Depressiontages am 5. Oktober.
Der Tag solle insbesondere aufmerksam machen auf die Depression – der Erkrankung, deren Dauer und Häufigkeit besonders hoch sei, betonte der Ärztliche Direktor im Ameos Klinikum Hildesheim. Gleichzeitig sei die Depression aber gut behandelbar, insbesondere, wenn sie frühzeitig erkannt werde.
„Jede dritte Person in Deutschland erfüllt im Laufe eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung. Wir erleben eine stille Epidemie“, sagte Kirsten Kappert-Gonther, Berichterstatterin für seelische Gesundheit von Bündnis 90/Die Grünen. Psychische Erkrankungen verkürzten das Leben um bis zu zehn Jahre. Allein 2023 sind ihr zufolge 10.300 Menschen durch Suizid gestorben – dreimal so viele wie im Straßenverkehr.
„Die Angst hat sich in den Alltag der Menschen eingebrannt. Die Menschen fürchten unbezahlbares Wohnen, steigende Lebenshaltungskosten, Trump, Krieg, Extremismus und Naturkatastrophen“, sagte die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie.
Kinder und Jugendliche litten besonders, betonte sie mit Verweis auf die Lancet Psychiatry Commission, die von einer „Global Youth Mental Health Crisis“ spricht. „Wenn unsere Kinder mit Angst statt mit Hoffnung aufwachsen, ist das eine Gefahr für ihre Zukunft – und für unsere Demokratie“, mahnte die Politikerin.
Soziale Medien zeigten sich inzwischen als „Brandbeschleuniger“ für die Verbreitung von Angst, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. „Algorithmen belohnen Hass, Fake News und Antifeminismus.“ Doch schon Kinder im Grundschulalter seien fast täglich in sozialen Netzwerken unterwegs. 11 Prozent der Jugendlichen weltweit zeigten ein suchtartiges Nutzungsverhalten. „Das bedeutet Kontrollverlust, Rückzug, Vernachlässigung anderer Aktivitäten“ betonte die Ärztin. Es brauche deshalb dringend einen Kinder- und Jugendschutz im Netz.
Kappert-Gonther wies zudem im Besonderen auf peripartale Depressionen hin, die ihr zufolge bis zu 20 Prozent der Mütter betreffen, und eine der häufigsten Komplikationen rund um die Geburt seien. „Trotzdem fehlt es an ausreichenden Versorgungsstrukturen. Wir brauchen verbindliche Screeningprogramme und gesicherte Behandlungsangebote“, forderte sie.
Hausärzte für die Früherkennung und Erstdiagnostik von Depression
Für die Früherkennung von Depressionen ständen die Hausärztinnen und Hausärzte zur Verfügung, betonte Ilka Aden, Fachärztin für Allgemeinmedizin mit Zusatzqualifikationen Psychotherapie. „Viele depressive Menschen können ihre Lage nicht in Worte fassen. Sie kommen mit Rückenschmerzen, mit Schlafstörungen, mit Herzrasen – aber nicht mit dem Satz: ‚Ich bin depressiv.‘ Deshalb braucht es ein geschultes Ohr.“
Hausärzte seien als einzige Facharztgruppe flächendeckend verfügbar, breit ausgebildet und vertraut mit den biografischen, sozialen und familiären Kontexten ihrer Patientinnen und Patienten. Das macht sie besonders geeignet für die Erstdiagnostik und Behandlung von Depressionen – und für die Koordination weiterführender Hilfen, so die Landesverbandsvorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes Braunschweig.
Im Team mit medizinischen Fachangestellten (MFA), die oft als erste Veränderungen wahrnähmen, gelinge es, Betroffene früh zu identifizieren und kontinuierlich zu begleiten, betonte Aden. „Insbesondere bei akuten Verschlimmerungen in suizidalen Krisen sind Hausarztpraxen und ihre speziell ausgebildeten Teams, die gemeindenah kurzfristig verfügbar sind, für die Betroffenen da.“
Wechselspiel von psychischen, biologischen und sozialen Belastungsfaktoren
Aus wissenschaftlicher Perspektive berichtete Alexander Karabatsiakis, Repräsentant der EDA in Österreich, dass Grundlagenwissenschaft und klinische Forschung sich mittlerweile einig seien, dass es nicht ‚den einen‘ Faktor für das Auftreten einer Depression gebe. „Vielmehr sind das Entstehen und die Manifestation einer Depression bedingt durch die Chronizität des Wechselspiels von psychischen, biologischen und sozialen Belastungsfaktoren“, sagte der Professor für Biomolekulare Psychotraumatologie und Stressforschung an der Leopold-Franzens-Universität, Innsbruck.
Diagnostik und Versorgung von psychischen Erkrankungen wie einer Depression nehmen ihm zufolge dabei immer stärker individuelle Aspekte wie psychische Belastungen, chronischen oder traumatischen Stress oder auch Persönlichkeitsmerkmale wie Neurotizismus in den Blick.
Aktuell steige die Stressbelastung in der Gesellschaft an, auch durch ständige Erreichbarkeit im Beruf, betonte Karabatsiakis. Frauen gäben mehr Belastungen an als Männer. Die gute Nachricht sei: „Menschen mit hoher Resilienz nehmen Stress als weniger bedrohlich wahr, Resilienz kann die Stressbelastung abpuffern und das Risiko für Depression senken“, so der Arzt.
Entsprechend könne gegengesteuert werden: Regeneratives Stressmanagement durch Sport und Bewegung, Hobbies und soziale Kontakte sei hilfreich. Bei Kindern und Jugendlichen sollte die Resilienz vor allem durch die Förderung ihrer Selbstwirksamkeit gestärkt werden, forderte Karabatsiakis. Entsprechende Programme in Kitas und Schulen müssten stärker gefördert werden.
Wenn Sie Suizidgedanken haben oder bei einer anderen Person wahrnehmen: Kostenfreie Hilfe bieten in Deutschland der Notruf 112, die Telefonseelsorge 0800/1110111 und das Info-Telefon Depression 0800/3344 533. Weitere Infos und Adressen unter www.deutsche-depressionshilfe.de.
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