Medizinhistoriker gibt vergessenen Opfern wieder einen Namen

Halle – Wer war der Franzose Paul Hemsi, 1905 in Paris geboren, der 1940 in Moosburg an der Isar gestorben ist? Eine neue Datenbank will darüber Aufschluss geben, indem sie das Schicksal des jüdischen Juweliers sichtbar macht.
Demnach war Hemsi, der in deutscher Kriegsgefangenschaft krank wurde und – laut Akten – an einem Herzinfarkt starb, Opfer von medizinischer Zwangsforschung: Sein Gehirn wurde nach seinem Tod entnommen und dem Kaiser-Wilhelm-Institut für psychiatrische Forschung in München zu Forschungszwecken geschickt. Weder seine Familie noch die französischen Behörden wussten jahrzehntelang etwas davon.
Es ist eines von mehr als 30.000 Schicksalen, die der britische Medizinhistoriker Paul Weindling mit seiner Arbeit aufdecken und sichtbar machen will. Mehr als 10.000 Betroffene waren den Angaben zufolge Juden, mehr als 5.000 Sinti und Roma.
Die Datenbank soll demnach nicht nur Forschern, sondern auch Angehörigen erstmals einen systematischen Zugang zu Namen und Lebensdaten von Opfern medizinischer Zwangsforschung im Nationalsozialismus bieten.
Aufgebaut wurde sie durch ein von der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) gefördertes Projekt mit Forschungsgruppen in Deutschland, Österreich und Großbritannien. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina übernahm neben eigener Forschung das Datenbankmanagement.
Das Angebot enthält Informationen zu einzelnen Experimenten und daran beteiligten Institutionen, ausgewählte Biografien einzelner Betroffener und eine interaktive Karte zur geografischen Verteilung der Verbrechen.
Es gehe um die nachträgliche Erinnerung und Wertschätzung von Menschen, indem vielen von ihnen erstmals ein Name gegeben und ihre Biografie beachtet werde, so Weindling, der auch Mitglied der Leopoldina ist. Deutsche Archive hätten oftmals zum angeblichen Schutz der Betroffenen persönliche Daten geschwärzt; Anonymisierung von Opfernamen sei aber eine weitere Schädigung der Opfer.
Insgesamt habe es 366 Versuchsreihen zwischen 1937 und Kriegsende gegeben, die teilweise langfristig angelegt waren und auch für das Erlangen von Doktortiteln benutzt wurden. „Die meisten der Forschungsopfer überlebten, jedoch schwer verletzt“, sagt Weindling.
Die Hirnforschung sei fester Bestandteil der Zwangsforschung im Nationalsozialismus gewesen, viele Opfer seien aber bisher übersehen worden, sagt der Forscher. Man habe die Opfer der NS-Euthanasie gesehen, nicht aber die betroffenen Kriegsgefangenen, etwa aus Frankreich, Belgien, Großbritannien, Polen und der Sowjetunion.
Zu den Opfern medizinischer Zwangsforschung zählten auch kranke Kinder und solche mit Behinderung: Vor 86 Jahren, am 18. August 1939, begann der Massenmord an ihnen durch das NS-Regime. Ein vom damaligen Reichsinnenministerium herausgegebener Runderlass markierte den Beginn der sogenannten Aktion T4.
Dies mache schmerzhaft deutlich, wozu Menschen fähig sind, wenn demokratische Werte durch Rassenideologie ersetzt werden, erklärt der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Patrick Cramer. „Es mahnt uns Verantwortung zu übernehmen, gerade auch in der Wissenschaft“.
Die Datenbank sei ein Forschungsinstrument, solle aber auch Angehörigen helfen, Schicksale nachzuvollziehen, so dass ein digitaler Gedenkort entstehe. Die Gesellschaft förderte die Forschung des Projekts demnach seit 2017 mit bis zu vier Millionen Euro.
Die heutigen Max-Planck-Institute für Hirnforschung und für Psychiatrie sind die Nachfolgeeinrichtungen von zwei Kaiser-Wilhelm-Instituten (KWI). KWI-Wissenschaftler hätten damals von der Unmenschlichkeit eines totalitären Regimes profitieren wollen, hieß es. Sie forschten an Humanpräparaten, die zweifelsfrei von Euthanasieopfern stammten.
So wurden etwa die Gehirne von mehr als 30 Kindern, die am 28. Oktober 1940 in der Landesanstalt Görden ermordet wurden, zu Forschungszwecken an Julius Hallervorden, einem damaligen Direktor des KWI, übergeben: Er unterstützte in dieser Zeit die Ermordung von Kindern und jungen Erwachsenen mit vermeintlichen oder nachgewiesenen psychiatrischen Erkrankungen, um so Material für die Forschung zu erlangen.
Hallervorden nutzte die Gehirne demnach bis in die 1960er-Jahre hinein, und einige seiner unmittelbaren Nachfolger setzten die Nutzung dieser Hirnproben wahrscheinlich bis weit über die 1960er-Jahre hinaus fort. Erst später, im Jahr 1990, wurden sie in München beigesetzt.
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