Neurotechnologien: Deutscher Ethikrat untersucht ethische Fragestellungen

Berlin – Neurotechnologien entwickeln sich derzeit mit hoher Geschwindigkeit und eröffnen Einsatzmöglichkeiten, die weit über die klassische Medizin hinausgehen. Neben Prothesen und Exoskeletten gibt es inzwischen Headsets zur Steigerung von Konzentration oder Wohlbefinden, Hirnimplantate, die Gedanken in Bewegung oder Sprache übersetzen, sowie Anwendungen im Freizeitbereich wie Neuro-Gaming.
Der Deutsche Ethikrat beobachtet diese Entwicklungen genau und will sich mit ihnen und den dabei aufkommenden ethischen Fragestellungen im Rahmen einer Stellungnahme befassen.
Bei einer öffentlichen Anhörung am 18. September verschaffte sich das interdisziplinär besetzte Gremium, das die Politik zu ethischen Fragen berät, zunächst einen Überblick darüber, welche Innovationen aktuell die Forschung prägen, welche Ziele Wissenschaft und Industrie verfolgen und welche Erwartungen realistisch sein könnten.
„Neurotechnologien werden nicht nur in der Medizin erforscht und angewandt, sondern halten zunehmend auch in Alltag, Berufsleben und Freizeit Einzug“, erklärte der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Helmut Frister. Schon bald könnten sie so selbstverständlich sein wie heute die Nutzung von KI-Tools (KI: Künstliche Intelligenz).
Diese Entwicklung wolle der Rat gesellschaftlich begleiten und bald eine Stellungnahme vorlegen, die Chancen und Risiken gleichermaßen beleuchte und ethische Leitplanken formuliere, so Frister. Der Ethikrat wolle damit nicht nur Orientierung geben, sondern auch sicherstellen, dass Neurotechnologien im Spannungsfeld von medizinischem Nutzen, Alltagsintegration und ethischer Verantwortung verantwortungsvoll entwickelt werden.
„Während der Anhörung geht es nicht um eine abschließende ethische Bewertung – zunächst müssen wir die Fakten kennen. Schon das allein ist eine Herausforderung“, sagte Frister am 18. September. Die Ratsmitglieder waren an diesem Tag in Berlin zusammengekommen, um mit Fachleuten aus Deutschland, Großbritannien und den USA zentrale Fragen zu diskutieren.
„Viele der gegenwärtigen Entwicklungen sind nicht mehr nur an Patientinnen und Patienten gerichtet, sondern werden direkt für den täglichen Gebrauch entwickelt – oft aus dem Silicon Valley heraus“, sagte Ratsmitglied Aldo Faisal, Informatiker und Ingenieur, der die Veranstaltung moderierte. Die Debatte dürfe nicht allein der Industrie überlassen bleiben. Entscheidend sei, dass sie von der Wissenschaft getrieben werde – nicht vom Marketing.
Einen wissenschaftlichen Einstieg lieferte Tamar Makin, die von der University of Cambridge zugeschaltet war. Sie erforscht die Plastizität des Gehirns – also dessen Fähigkeit, sich an Erfahrungen und Interaktionen anzupassen. Diese Fähigkeit ist nicht nur zentral für die Genesung nach Verletzungen, sondern auch für die Integration neuer Technologien.
Makin betonte, dass nicht-invasive Schnittstellen wie tragbare Robotergeräte das Körperbild im Gehirn verändern könnten. „Invasivität“ sei daher nicht nur medizinisch – also ob ein Gerät den Schädel durchdringt – zu verstehen, sondern auch im Hinblick darauf, wie stark es den Alltag und die Selbsterfahrung beeinflusse. Entscheidend für den Erfolg von Neurotechnologien seien Faktoren wie Funktionalität, Komfort, Privatsphäre und die Wahrung von Handlungsspielräumen.
Surjo Soekadar von der Charité – Universitätsmedizin Berlin hob hervor, dass die Neurowissenschaft inzwischen bidirektionale Gehirn-Computer-Schnittstellen in Echtzeit ermögliche. Neuronale Aktivität könne entschlüsselt und das Gehirn gleichzeitig stimuliert werden. Getrieben von milliardenschweren Investitionen, erweitere sich das Feld rasant über die Medizin hinaus, so Soekadar. Damit würden auch die Risiken wachsen, wie neue Abhängigkeiten, der Verlust menschlicher Fähigkeiten oder psychologische Belastungen.
Soekadar plädierte daher für ein verpflichtendes „Mental Impact Assessment“ (MIA) bei risikobehafteten Neurotechnologien, um psychologische und gesellschaftliche Folgen systematisch zu prüfen. Gleichzeitig müsse eine Überregulierung vermieden werden, um Innovation nicht abzuwürgen. Wichtig seien zudem spezielle Innovationsökosysteme und administrative Leitlinien – „Neurotech Sherpas“ –, um Europas technologische Souveränität zu sichern.
Auch Daniel Strauss von der Saarland University sieht viele Chancen, aber auch Risiken. Technologien, die Absichten oder Emotionen entschlüsseln würden, könnten im Alltag zwar enorme Möglichkeiten eröffnen, gleichzeitig aber bei vielen Menschen Unbehagen auslösen, betonte er.
In den vergangenen Jahren habe die Neurotechnologie einen bemerkenswerten Wandel vollzogen: weg von rein medizinischen Anwendungen hin zu Alltagsgeräten wie Smartphones oder Fahrzeugen. Angetrieben vor allem von großen Technologiekonzernen markiere dies den nächsten Evolutionsschritt der Mensch-Maschine-Interaktion – weg von Tastatur, Maus und Sprache, hin zu einer direkten Verbindung zwischen Nervensystem und Technik. Dies ethisch zu begleiten sei enorm wichtig.
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