Pflegebedürftigkeit: Fachleute plädieren für mehr Prävention

Berlin – Der Schlüssel, um den Anstieg der Pflegefälle in den kommenden Jahren abzufedern, ist die Prävention. Darin waren sich Fachleute bei einer Veranstaltung des IGES-Instituts und der Initiative generationengerechte Pflege in Berlin einig. Sie müsse sowohl im ambulanten Bereich als auch in stationären Einrichtungen ausgeweitet werden. Die Politik tut in ihren Augen bislang zu wenig.
„Prävention spielt in der Kranken- und Pflegeversicherung bisher leider eine untergeordnete Rolle“, sagte Grit Braeseke, Bereichsleiterin Pflege im IGES-Institut. Der Anteil der jährlichen Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für Gesundheitsförderung und Früherkennung von Krankheiten an den laufenden Gesundheitskosten sei zwischen 2015 und 2023 von 1,7 Prozent auf 1,6 Prozent erst einmal gesunken, so Braeseke.
„Die Politik hat mit dem Präventionsgesetz dafür gesorgt, dass zumindest jetzt auch in der Pflege Prävention in den Blick genommen wurde“, sagte sie. Dies müsse auch auf den häuslichen Bereich ausgeweitet werden, um den größten Teil der Pflegebedürftigen zu erreichen. Konkrete Vorschläge macht sie in einem Diskussionspapier.
„Eine konsequente Präventionsorientierung in der Gesundheitsversorgung und Pflege ist alternativlos“, heißt es darin. Dies würde nicht nur die sozialen Sicherungssysteme und den Arbeitsmarkt entlasten, sondern auch zur Steigerung der Lebensqualität und des Wohlbefindens in den letzten Lebensjahren führen, schreibt Braeseke.
„Ganz wichtig ist, dass das Thema Prävention von Erkrankungen und Verletzungen durch einen gesunden Lebensstil in den Alltag mehr eingeht“, so die Bereichsleiterin. Dazu müsse vor allem Bewegung zur Alltagsgewohnheit gemacht und eine intensive Sturzprävention betrieben werden. Multimodale Trainingsprogramme hätten sich als zielführend erwiesen.
Neben Übungen für Kraft und Ausdauer und Beratungen zur Ernährung und zu einem gesunden Schlaf sei auch der Infektionsschutz von Älteren und die Unterstützung beim Krankheitsmanagement zu berücksichtigen. Ältere müssten zudem in ihrer mentalen Gesundheit gefördert werden und pflegende Angehörige eine bessere Begleitung und Unterstützung bekommen.
Personen, die nach Begutachtung keinen Pflegegrad erhalten, sollten Braeseke zufolge auf entsprechende Präventionsmöglichkeiten und -angebote aufmerksam gemacht und bei der Inanspruchnahme unterstützt werden.
Im Diskussionspapier schlägt Braeseke auch vor, ausgezahltes Pflegegeld an verpflichtende Beratungsbesuche zu koppeln, um Betroffene besser zu informieren und ihnen gesundheitsfördernde Lebensstile mitzugeben. „Eine Verknüpfung von Geldleistungen mit einem präventiven Ansatz wäre sicher hilfreich“, betonte sie.
Gesetzgeberische Maßnahmen reichen nicht aus
„Die Babyboomer werden in den kommenden Jahren die Nachfrage nach medizinischen und pflegerischen Leistungen in die Höhe treiben“, sagte Maria Becker, Leiterin der Unterabteilung Pflegestärkung im Bundesministerium für Gesundheit. Dies werde insbesondere die Jahre 2030 bis 2050 betreffen. Zugleich steige der Bedarf an Fachkräften, die in dieser Zahl aber nicht verfügbar seien.
„Die Bundesregierung hat verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die Versorgung in der Fläche sicherzustellen und die Arbeitsbedingungen für Pflegefachpersonen zu verbessern“, erklärte sie. Dazu zählten das Pflegefachassistenzgesetz, das Gesetz zur Befugniserweiterung und Entbürokratisierung sowie die Arbeit an einem Gesetzentwurf für einen Masterstudiengang „Avanced Practice Nurse“.
Mit letzterem stünde ein neues Berufsbild zur Verfügung, das in der praktischen Versorgung zum Tragen kommen könne und die Prävention und Gesundheitsförderung in den Blick nehme. „Aber diese gesetzgeberischen Maßnahmen werden nicht ausreichen“, betonte Becker.
Es müsse darum gehen, Pflegebedürftigkeit möglichst frühzeitig zu vermeiden beziehungsweise zeitlich hinauszuschieben und zu verringern. „Das gelingt nur mit einem gesundheitsfördernden Lebensstil und Prävention“, sagte sie. Diese sollten sowohl im ambulanten Bereich als auch in stationären Einrichtungen gefördert werden.
Einige wenige Pflegeeinrichtungen würden es schon jetzt schaffen, dass Pflegebedürftige mithilfe von Prävention in einen niedrigeren Pflegegrad eingestuft werden könnten. Dieses Potenzial müsse noch stärker aktiviert werden. Wichtig sei es, die Selbstständigkeit von Pflegebedürftigen trotz Einschränkungen lange zu erhalten, so Becker.
Auch vulnerable Gruppen mit geringer Gesundheitskompetenz müssen der Unterabteilungsleiterin zufolge frühzeitig gezielt angesprochen und über einen gesunden Lebensstil informiert werden, um das Risiko für eine spätere Pflegebedürftigkeit zu minimieren.
Einen Fokus müsse zudem auf die Nacherwerbsphase gelegt werden. „Sie birgt im Kern das größte Risiko für Krankheitsentstehung und damit auch für Pflegebedürftigkeit“, so Becker. Betriebe könnten ältere Beschäftigte in ihrer letzten Phase der Erwerbstätigkeit unterstützen und entsprechende Präventions- und Beratungsangebote einführen.
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