Rekord an FSME-Infektionen: Corona könnte eine Rolle spielen, langfristiger Trend befürchtet

Stuttgart – Mehr als 700 Menschen sind im vergangenen Jahr nach einem Zeckenstich an Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) erkrankt. Dies sei der höchste Wert, seit die Erkrankung 2001 in Deutschland meldepflichtig geworden sei, hieß es heute bei einer Pressekonferenz der Universität Hohenheim. Mit verantwortlich für die hohe Zahl ist den Experten zufolge auch die Coronapandemie.
„Wir hatten eine extreme Zeckenzahl und eine extreme Durchseuchung mit dem FSME-Virus“, sagte Gerhard Dobler, Leiter des Nationalen Konsiliarlabors für FSME am Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr. Und durch die Coronapandemie hätten sich die Menschen häufiger draußen in der einheimischen Natur aufgehalten und dabei auch verstärkt FSME-Risikogebiete besucht.
Allerdings sind die Pandemie und die daraus resultierenden Verhaltensveränderungen der Menschen nicht der einzige Grund für die steigenden Zahlen. Laut Ute Mackenstedt, die an der Universität Hohenheim das Fachgebiet für Parasitologie leitet, ist „das ganze Geschehen sehr komplex. Es gibt offensichtlich Entwicklungen, die zu Veränderungen im Übertragungszyklus führen.
Ob es sich dabei nur um eine kurzfristige Entwicklung handelt oder sich gerade ein langfristiger Trend abzeichnet, ist noch ungeklärt. Es spricht aber einiges dafür, dass das Risiko für eine FSME-Erkrankung auch 2021 deutlich höher sein könnte als in „normalen“ Jahren.
„Ich erwarte das zweithöchste FSME-Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2001“, sagte Franz Rubel vom Wiener Institut für Öffentliches Veterinärwesen. Unter anderem werde es im laufenden Jahr in Deutschland überdurchschnittlich viele Zecken geben, durch deren Bisse die Erreger für Borreliose und die FSME übertragen werden können. Das geht aus einer Prognose Rubels und anderer Wissenschaftler der Vetmeduni Wien hervor, die auf Grundlage eines mathematischen Modells die Zeckendichte voraussagt.
Die Wiener rechnen laut Prognose mit bundesweit 540 FSME-Fällen im laufenden Jahr. Diese Prognose beinhaltet aber noch nicht den Einfluss der Pandemie auf das Freizeitverhalten der Menschen. „Wir brauchen da noch etwa zehn Prozent Coronaaufschlag“, sagte Rubel.
Eine wichtige Information für Ärzte sei auch, so Mackenstedt, dass Zecken nicht mehr wirklich in eine Winterruhe gehen. Eine Rolle spielt dabei sicherlich auch der Klimawandel. So ist der gemeine Holzbock, Ixodes ricinus, jetzt nicht nur in den wärmeren Jahreszeiten, sondern auch im Winter aktiv“, erklärt sie weiter. Und bereits ab Februar steige die Zahl der Zecken dann deutlich an.
Zecken schon ab Februar sehr aktiv
Und ebenso wie man nicht mehr wirklich in Zeckenzeit und Nicht-Zeckenzeit trennen kann, müsse man sich, so Mackenstedt, auch von dem Irrglauben lösen, dass es in Norddeutschland keine Zecken gebe. „Zecken sind in ganz Deutschland verbreitet und schon im Februar sehr aktiv“, stellte sie klar.
Nur bei der Zahl der Zecken gibt es weiterhin Unterschiede: Auf Höhe der deutschen Mittelgebirge zieht sich quasi eine Grenze durch Mitteleuropa. Südlich dieser gedachten Linie sind im Jahr 2020 die FSME-Zahlen zum Teil dramatisch angestiegen, während nördlich davon die Erkrankungshäufigkeit praktisch unverändert geblieben ist.
„Im Jahr 2020 wurden die meisten FSME-Fälle in Baden-Württemberg gezählt, während im Jahr 2019 die meisten FSME-Fälle aus Bayern gemeldet wurden“, berichtete Rainer Oehme vom Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg. „Letztes Jahr sind hier 331 Menschen an FSME erkrankt. Das trägt natürlich auch zum deutlichen Anstieg der deutschlandweiten Fallzahlen bei.“
Auch die angrenzenden Nachbarländer Österreich, Schweiz und Tschechien weisen für letztes Jahr extrem hohe Fallzahlen aus, so Dobler, Leiter des Nationalen Konsiliarlabors für Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) am Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr.
Dagegen seien die Zahlen in Skandinavien, den baltischen Staaten und Polen nahezu konstant geblieben und in Schweden hätten sie sogar abgenommen. „Das heißt aber nicht, dass nicht auch im Norden Hotspots auftreten können“, warnte Dobler. „So wurde 2019 das Emsland als erstes Gebiet in Niedersachsen zum Risikogebiet erklärt. Man kann dem FSME-Risiko in Deutschland praktisch nicht mehr ausweichen. Nahezu überall muss mit Infektionen gerechnet werden.“
Mit einer Impfung kann man sich vor einer Infektion mit FSME schützen. Die Ständige Impfkommission empfiehlt die Impfung allen, die in einem Risikogebiet zeckenexponiert sind. Trotzdem sind in Deutschland schätzungsweise nur rund 20 Prozent der Bevölkerung geimpft, und die Tendenz ist eher stagnierend.
„Noch immer gibt es leider Ärzte, die gegenüber der FSME-Impfung reserviert sind“, sagte Dobler. Manche Kinderärzte würden zudem erst ab dem 5. Lebensjahr impfen, wofür es keinen Grund gebe. Ob Ärzte in Deutschland über das FSME-Risiko aufklären und aktiv für eine Impfung würben, sei sehr von der Einstellung des jeweiligen Arztes abhängig.
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