Vermischtes

Streit um Abschaffung der Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag

  • Montag, 6. Januar 2025
/Hugo Félix, stock.adobe.com
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Düsseldorf – Der Chef des Versicherungskonzerns Allianz, Oliver Bäte, hat angesichts des hohen Krankenstands in Deutschland vorgeschlagen, den Karenztag bei Krankmeldungen wieder einzuführen. Die Gewerkschaften kritisieren den Vorstoß scharf, während auch Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gegen Bätes Thesen sprechen.

„Damit würden die Arbeitnehmer die Kosten für den ersten Krankheitstag selbst tragen“, hatte Bäte dem Handels­blatt gesagt. Dieser Karenztag war in den 1970er-Jahren abgeschafft worden. Die Gewerkschaften kritisierten den Vorstoß scharf.

Arbeitnehmer in Deutschland seien im Schnitt 20 Tage pro Jahr krank, während der EU-Schnitt bei acht Krank­heitstagen liege, sagte Bäte der Zeitung. Deutschland sei „mittlerweile Weltmeister bei den Krankmeldungen“. Das erhöhe die Kosten im System.

Arbeitgeber in Deutschland zahlten pro Jahr 77 Milliarden Euro Gehälter für kranke Beschäftigte. Von den Kran­ken­kassen kämen weitere 19 Milliarden Euro. Das entspreche rund sechs Prozent der gesamten Sozialausgaben; EU-weit liege der Durchschnitt bei etwa 3,5 Prozent.

Für die Wiedereinführung von Karenztagen wie in anderen Ländern hatte sich kürzlich auch die Chefin der Wirt­schaftsweisen, Monika Schnitzer, ausgesprochen. Bäte nannte als Beispiele Schweden, Spanien oder Griechenland.

Die Forderung nach einer Abschaffung der Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag „kommt in jeder wirtschaft­lichen Schwächephase wie das Amen in der Kirche“, erklärte hingegen Norbert Reuter, Leiter der Tarifpolitischen Grundsatzabteilung bei der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi), auf Anfrage des Deutschen Ärzteblatts.

Es handele sich bei Bätes Forderung um „einen Angriff auf soziale Errungenschaften“, die von den Gewerkschaften aus guten Gründen hart erkämpft worden seien. Ver.di werde deshalb jeder Forderung nach Aufweichung dieses Anspruchs auf Lohnfortzahlung „massiv entgegentreten“.

„Wenn Beschäftigte krank sind, dürfen sie nicht auch noch zusätzlich mit Lohneinbußen bestraft werden“, betonte Reuter. „Drohende Lohneinbußen würden zudem gerade bei Beschäftigten, die wenig verdienen, dazu führen, dass sie auch krank zur Arbeit gehen.“

Das wiederum wäre auch wirtschaftspolitisch „völlig kontraproduktiv, wenn dann etwa bei Erkältungskrankheiten andere Beschäftige angesteckt beziehungsweise Krankheiten verschleppt würden, so dass sogar mehr beziehungs­weise längere krankheitsbedingte Ausfälle auftreten würden“.

Auch Anja Piel, Vorstandsmitglied beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), widersprach Bäte mit scharfen Worten. „Niemand braucht aktuell Vor­schläge, die noch mehr Beschäftigte dazu bringen, krank zu arbeiten“, sagte sie.

Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall sei ein soziales Schutzrecht, das ab dem ersten Krankheitstag gelte. „Nur so ist gewährleistet, dass kranke und erholungsbedürftige Beschäftigte tatsächlich gesund werden können.“ Immer mehr Menschen würden trotz Krankheit arbeiten, erklärte Piel.

Präsentismus, also krank bei der Arbeit zu erscheinen, sei branchenübergreifend weit verbreitet. Präsentismus schade aber nicht nur der eigenen Gesundheit, sondern führe auch zur Ansteckung von Kolleginnen und Kollegen.

Die wirtschaftlichen Folgekosten seien etwa doppelt so hoch wie die Kosten krankheitsbedingter Fehlzeiten. Außerdem: „Wer krank zur Arbeit kommt, erhöht die Gefahr für Unfälle und Fehler, die zu Produktivitätsverlusten führen und die Unternehmen erst recht teuer zu stehen kommen können.“

Piel kritisierte den Vorschlag aus der Wirtschaft als zutiefst ungerecht: Finanzielle Auswirkungen einer alternden Gesellschaft gehörten keinesfalls alleine auf den Rücken der Beschäftigten, „um im Umkehrschluss Arbeitgeber zu entlasten, Boni für Vorstände zu sichern und Dividenden der Shareholder zu steigern“, betonte sie. Ein leistungs­fähiger und solidarischer Sozialstaat sei Garant für gesellschaftlichen Frieden und Demokratie im Land.

Zudem verwies sie auf Statistiken der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), wonach der Krankenstand in Deutschland kein Rekordniveau erreicht hat. Demnach sind die von den Krankenkas­sen gemeldeten Höchstwerte vor allem eine Folge der besseren Erfassung von Krankheitstagen und somit ein rein statistischer Effekt.

Die OECD basiert ihre Statistiken nicht auf Meldungen bei den Krankenkassen, sondern jährliche Befragungen. Ihre Daten widersprechen auch der These, Deutschland liege im europäischen Vergleich beim Krankenstand an der Spitze. In Frankreich etwa ist er demnach noch etwas höher, in Belgien und Schweden auf dem gleichen Niveau, in Österreich und den Niederlanden niedriger.

IG-Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban nannte es „unverschämt und fatal“, den Beschäftigten Krank­mache­rei zu unterstellen. Die deutsche Wirtschaft gesunde nicht mit kranken Beschäftigten, sondern mit besseren Arbeitsbedingungen.

Verhaltener Zuspruch kam hingegen aus der CDU. Unionsfraktions-Vize Sepp Müller sagte dem Onlineportal Poli­tico, Deutschlands Sozialsysteme würden „immer weiter beansprucht“. Aus diesem Grund „sollten wir uns meiner Meinung nach nicht vor neuen Ideen verschließen und diese diskutieren“. Auch wenn das Thema der Karenztage sich nicht im Wahlprogramm der CDU finde, „könnte dies ein altbewährter Ansatz sein“.

Der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Tino Sorge (CDU), zeigte sich dagegen skeptisch. „Nur die allerwenigsten Menschen melden sich aus Spaß krank“, sagte er zu Politico. Er forderte „schnell verlässliche Daten zum Beispiel über die Gründe des erhöhten Krankenstandes und auch von kurzen Krankmeldungen“.

Allianz-Manager Bäte sprach sich zudem dafür aus, Gesundheitsleistungen zu kürzen. „Wir müssen darüber spre­chen, was wir uns in einer alternden Gesellschaft noch leisten können.“ Allein die Krankenkassen hätten im vergangenen Jahr 289 Milliarden Euro ausgegeben, die Beiträge stiegen Jahr für Jahr weiter. „Gleichzeitig steht Deutschland bei der Zahl der Arztbesuche auf Platz 7. Das ist doch irre“, sagte er dem Handelsblatt.

lau/dpa/afp

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