Vermischtes

Versorgungsforscher wollen enger mit klinischer Forschung kooperieren

  • Dienstag, 4. Oktober 2022
/Blue Planet Studio, stock.adobe.com
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Berlin – Klinische Forschung und Versorgungsforschung müssen künftig enger verzahnt werden, damit wis­sen­schaftliche Erkenntnisse schneller einen Nutzen in der klinischen Praxis entwickeln können. Das fordert der Deutsche Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Dazu müsse vor allem die Kommunikation und Zu­sammenarbeit zwischen den verschiedenen Beteiligten verbessert werden.

Im Wissenschaftsbetrieb herrscht ein Mangel an sogenannter Reverse Translation: Zu selten würden Erkennt­nisse, die bei der Überprüfung medizinischer Innovationen unter Real-World-Bedingungen entstehen, zurück in die klinische Forschung fließen, kritisierte heute Peter Falkai, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psy­cho­therapie der Ludwig-Maximilians-Universität München und Kongresspräsident des DKVF.

Man müsse vor allem bei medizinischen Innovationen, bei denen das verfügbare Wissen meist nur aus Zu­lassungsstudien zur Verfügung stehen, besser verstehen, ob sie für Patienten im Ver­sorgungsalltag wirksam und sicher seien. Real World Evidence, beispielsweise zur Wirkung bei komorbiden Patienten, älteren oder jüngeren Patienten, stehe im Anschluss an die klinische Forschung meist nicht zur Verfügung. Diese Lücke könne und müsse die Versorgungsforschung füllen.

Doch die Versorgungsforschung könne auch vorher schon einen bedeutenden Beitrag leisten: Zwar werde der Unmet Medical Need meist rhetorisch bemüht, faktisch müsse aber oft die Frage gestellt werden, welche In­no­vationen wirklich entwicklungswürdig sind. Er habe das Gefühl, dass klinische Studien zu oft an rein wis­sen­schaftlich relevanten Fragestellungen ausgerichtet würden, erklärte Falkai: „Meines Erachtens muss da breiter geschaut werden.“

Es sei die Versorgungsforschung, die den unerfüllten medizinischen Behandlungsbedarf am besten identifizie­ren kann, beispielsweise mit Blick auf Gesundheitsprobleme in der Bevölkerung. Er sei überzeugt, dass man durch eine engere Verbindung zur Versorgungsforschung den ungedeckten medizinischen Bedarf besser als bislang eingrenzen und so die Suche nach Innovationen sehr viel zielgerichteter führen kann.“

„Klinische Studien kann man viele machen. Die Frage ist aber: Wenn eine Studie schon so teuer und zeitauf­wendig ist, welchem Thema widme ich mich dann?“, erklärte Falkai. „Wir müssen auch in das Verständnis von Erkrankungen investieren.“ Bei Depressionen wisse man beispielsweise bis heute nicht sicher, was genau sie verursacht.

Dabei würden die beiden Forschungsbereiche stark davon profitieren, dass sie sehr komplementär seien, be­tonte der Kinder- und Jugendpsychiater Christoph Correll von der Charité Berlin. Die Versorgungsforschung sei durch eine starke externe bei schwacher interner Validität gekennzeichnet, bei randomisiert-kontrollierten klinischen Studien (RCT) sei es umgekehrt.

Bei RCT, deren Evidenz hauptsächlich Leitlinien beeinflusst, stelle außerdem oft die Frage, wie generalisierbar die Ergebnisse sind. Denn bis zu 80 Prozent der Patienten und Subgruppen würden systematisch ausgeschlos­sen, beispielsweise jene mit zu starker Erkrankung, um einwilligungsfähig zu sein, mit psychiatrischen oder körperlichen Komorbiditäten, Substanzabusus, Suizidalität, und Menschen, die mehr als ein Medikament ein­nehmen müssen.

Die Versorgungsforschung sei zentral, um Therapieeffekte auch in diesen häufigen und klinisch hoch relevan­ten Patientengruppen untersuchen zu können. Ihre Ergebnisse müssten daher den randomisiert generierten Daten komplementär zur Seite gestellt werden sollten.

RCT würden nur die Frage stellen, ob eine Therapie wirkt und kurz- bis mittelfristig sicher sei. Daten aus dem Versorgungsalltag würden hingegen die Frage beantworten, bei wem und unter welchen Bedingungen die Therapie wirke und wie es um die Langzeitsicherheit bestellt sei. „Wo die Evidenz randomisierter Studien endet, sollte der Staffelstab unbedingt von der Versorgungsforschung aufgenommen werden“, forderte Correll.

Eine Rolle müsse dabei auch eine bessere Einbeziehung von Patienten spielen, erklärte Anna-Levke Brütt, Privatdozentin an der Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Es sei wichtig, Best-Practice-Beispiele zu identifizieren und daraus Empfehlungen abzuleiten, was eine aus verschiedenen Perspektiven erfolgreiche Patientenbeteiligung ist, sowie Instrumente zur Qualitäts­sicherung bereitzustellen.

Noch vor wenigen Jahren sei die Beteiligung der Patienten an medizinischer Forschung nur von einigen Inter­es­sengruppen und engagierten Forschenden gefordert worden. Das habe sich stark geändert: Eine stärkere Ausrichtung an den Betroffenen und ihre Beteiligung an wissenschaftlicher Forschung sei sogar als Ziel in den Koalitionsvertrag der Regierungsparteien aufgenommen worden.

Das müsse nun aber auch durch konkretes Handeln umgesetzt werden. Wie, das werde in den kommenden Tagen debattiert werden. „Ich denke, dass gute Forschung heutzutage partizipativ sein muss“, erklärte auch Falkai. „Ich habe in der Zusammenarbeit gelernt, dass Kliniker oft mit zu großer Geschwindigkeit durch Stu­dien gehen. Der Kontakt mit Patienten und Angehörigen kann helfen, wichtige Faktoren zu identifizieren.“

Auch technisch gebe es jedoch noch Handlungsbedarf, erklärte Monika Klinkhammer-Schalke, Vorstandsvor­sitzende des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung. In der Onkologie werde schon lange an der Frage gearbeitet, wie sich Versorgung und Forschung besser miteinander verknüpfen lassen. „Das wichtigste ist heut­zutage, dass wir die Forscher mit den Patienten und den Kliniken verbinden“, erklärte sie. „Ein ganz wich­tiger Punkt ist dabei die Datenverknüpfung.“

Dabei bezog sie sich vor allem auf die klinischen Krebsregister, die mittlerweile in allen Bundesländern aktiv sind und alle wichtigen Daten im Verlauf einer Krebserkrankung und ihrer Behandlung erfassen.

Erst das Gesetz zur Zusammenführung von Krebsregisterdaten vom August 2021 habe die rechtliche Grund­lage für eine Zusammenführung klinischer und epidemiologischer Daten aus den Krebsregistern der Länder in ein bundesweites Datenreservoir geliefert. Laut dem Gesetz müssen Krebsregisterdaten mit anderen Datenini­tiativen verknüpfbar sein und anonymisierte Daten zu wissenschaftlichen Forschungszwecken auch für Dritte bereitgestellt werden können.

Die Meldepflicht helfe dabei zwar enorm. „Aber das Problem ist, die Daten zusammenzuführen“, sagte Klink­hammer-Schalke. Bestimmte wissenschaftliche Fragestellungen ließen sich durch die Verbindung von Primär- und Sekundärdaten detaillierter und mit höherer Qualität beantworten.

Neben geeignete gesetzliche Rahmenbedingungen seien deshalb insbesondere die Zusammenarbeit rele­van­ter Stakeholder, die Verknüpfbarkeit von Daten und exzellentes methodisches Know-how wichtige Vorausset­zungen dafür, dass Versorgungsdaten zur Verbesserung der Patientenversorgung genutzt werden können.

lau

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