Zellbasierte Medizin soll Prävention, Früherkennung und Versorgung auf neue Grundlage stellen

Berlin – Auf einen Paradigmenwechsel in der Medizin und damit einhergehende Verbesserungen der Versorgung setzen Forschungseinrichtungen, Kliniken und Industriepartner im Rahmen der europäischen Lifetime-Initiative. Ziel ist eine neue personalisierte Medizin, die Abweichungen in einzelnen Zellen erkennt und eingreift, bevor Symptome entstehen – die Krankheit also abfängt („interceptive medicine“).
Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) in Berlin hat jetzt gemeinsam mit dem Institut Curie in Paris eine strategische Forschungsagenda dazu entwickelt. Sie umreißt auf rund 170 Seiten, wie die Behandlung in fünf großen Krankheitsfeldern vorankommen soll, nämlich in den Bereichen Krebs, neurologische, infektiöse und chronisch-entzündliche Krankheiten sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Die Arbeitsgruppe um Nikolaus Rajewsky, wissenschaftlicher Direktor des Berliner Instituts für Medizinische Systembiologie (BIMSB) am MDC, und Geneviève Almouzni, Forschungsdirektorin am französischen Centre national de la recherche scientifique (CNRS), erläutern den Ansatz und die Forschungsagenda außerdem in der Zeitschrift Nature (DOI: 10.1038/s41586-020-2715-9).
Interceptive Medicine
Zellen folgen bekanntlich bestimmten Entwicklungspfaden, auf denen sie bestimmte Rollen im Gewebe und in Organen übernehmen. Weichen sie jedoch vom gesunden Pfad ab, verändern sich die Zellen allmählich immer mehr. Diese Veränderungen bleiben oft unentdeckt, bis Symptome auftreten.
Laut den Autoren können neue Technologien die molekulare Zusammensetzung einzelner Zellen abbilden. So werde es möglich, das Auftreten einer Krankheit oder einer Therapieresistenz deutlich früher zu erkennen.
„Wenn wir bahnbrechende Einzelzell- und Bildgebungsmethoden kombiniert mit künstlicher Intelligenz und personalisierten Krankheitsmodellen nutzen, können wir nicht nur den Ausbruch einer Krankheit früher vorhersagen, sondern auch die wirksamste Therapie für jeden Patienten auswählen“, berichten die Wissenschaftler.
Der Fokus liege dabei auf den krankheitsauslösenden Zellen, um den Verlauf einer Krankheit rechtzeitig zu unterbrechen, bevor irreparable Schäden auftreten.
Strategische Forschungsagenda
Die jetzt vorgelegte strategische Forschungsagenda soll laut den Wissenschaftler ein Fahrplan für die Umsetzung der zellbasierten Medizin in Europa innerhalb des nächsten Jahrzehnts sein.
„Sie ist die gemeinsame Vision von mehr als 100 Institutionen und medizinischen Zentren, 80 Unternehmen und wird von Patientenorganisationen sowie von angesehenen europäischen wissenschaftlichen Gesellschaften und Forschungsförderungsorganisationen unterstützt“, schreiben sie in der Einleitung.
Die Forschungsagenda empfiehlt erhebliche Investitionen in Forschungs- und Infrastrukturprogramme, um die wichtigsten klinischen Herausforderungen anzugehen und den Übergang zu einer zellbasierten und patientenzentrierten europäischen Gesundheitsversorgung voranzutreiben.
„Die Umsetzung der vorgeschlagenen Roadmap für Wissenschaft und Technologie wird eine frühere Erkennung und wirksame therapeutische Behandlung von Krankheiten ermöglichen, um die Lebensqualität der europäischen Bürger zu verbessern, die europäische Wirtschaft anzukurbeln und Europa eine führende Rolle in der zellbasierten interzeptiven Medizin der Zukunft zu sichern“, sind die Wissenschaftler überzeugt.
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