Deutschlandeindruck V: Der Staat soll's richten
Es fällt schon auf, dass der Ruf nach dem Staat in Deutschland größer als in den USA ist. Gibt es einen – vermeintlichen oder reellen – Misstand, dann soll der Staat es richten. Genügend Beispiele lassen sich dafür aufzeigen, wo der Staat vermeintliche Notstände beheben soll, ob nun beim sogenannten Pflegenotstand bei Demenzkranken, fehlenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten, Praxisgebühr usw. Die deutsche Mentalität scheint von diesem Staatszentrismus nachhaltig geprägt, sowohl auf Makro- als auch Mikroebene; auf der Mikroebene verlangt der Einzelne oft, dass der Staat Einzelleistungen zu bezahlen und für sein individuelles Wohlergehen zu sorgen habe.
Viele solche Beispiele sind mir in meinen Hospitationswochen begegnet. Aus meiner Sicht schienen sie oft absurd und/oder unverschämt, während die Patienten hingegen oft empört waren, dass der Staat oder die Krankenversicherung ihm die geforderte Hilfsleistung nicht bewilligen wollte.
Ein 74-jähriger Patient war z.B. sichtlich verstört als wir ihm mitteilten, dass er aufgrund seiner nicht sehr schweren Lungenentzündung keinen Anspruch auf staatlich bezahlte Reha hätte. In seinen Augen stand ihm aber eine Reha an der Ostsee zu, und er erzählte von Bekannten die eine solche erhalten hatten. Einen Antrag stellte er trotzdem.
Ein anderer Patient wiederum, der kürzlich Pflegestufe I erhalten hatte, erkundigte sich, warum wir bei seiner Aufnahme nach Mobilitätseinschränkungen fragten, ob wir dies aus ärztlicher oder aus Krankenkassensicht täten. Wir ließen uns beide Versionen schildern und stellten fest, dass es wohl für viele selbstverständlich sei, sich Zusatzgelder vom Staat geben zu lassen, anders als von T. Adorno behauptet also ein falsches in einem richtigen Leben zu führen.
Eine Patientin lamentierte laut, dass ihr Hausarzt sie nicht krankschreiben wolle um ihren Mann im Krankenhaus zu besuchen – welch ein Unmensch, denn nun musste sie abends kommen! Aber auch in Deutschland lebende Ausländer scheinen die Mentalität internalisiert zu haben: So gab es beispielsweise eine serbische Familie, die mehrmals die Woche uns Ärzte darum baten eine größere und vom Staat für sie bezahlte Wohnung für sie zu beschaffen – die vier Schlafzimmer würden für die sechs Kinder nicht ausreichen. Am Ende unserer erfolglosen Bemühungen waren sie sehr irritiert, dass man ihnen (vorerst) nicht hatte helfen können.
Die in Deutschland herrschende Staatsgläubigkeit und im Umkehrschluss bestehende Nehmermentalität – Motto “mir steht das ja zu” – ist aus US-Sicht nicht ganz nachvollziehbar. Angesichts enger werdender Kassen ist dieses auch eine Einstellung, die nicht mehr lange aufrechterhalten werden kann; beziehungsweise der Staat wird schlanker oder die Steuern eben höher.
Doch die Nehmermentalität ist weiterhin sehr beliebt und hat nun auch politisch in Deutschland eine weitere Partei für ihre Zwecke gefunden, eine immer stärker werdende Partei, die kostenlosen öffentlichen Nahverkehr, bedingungsloses Grundeinkommen und andere vom Staat und damit der Gesellschaft zu bezahlende Dinge verlangt: Die Piratenpartei.
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