Vom Arztdasein in Amerika

Die Krise der westlichen Medizin

  • Freitag, 23. November 2018

In regelmäßigen Abständen scheinen Teile der Gesellschaft Krisen zu durchlaufen. Das betrifft die Wirtschaft in Form einer Rezession oder gar Depression, die Politik in Form einer veränderten Parteilandschaft beziehungsweise gar Revolution, die Kunstszene, wenn zum Beispiel Dadaismus oder Hip-Hop entstehen, religiöse Systeme, wenn es zur Reformation oder Verdrängung kommt, und eben auch die Medizinlandschaft beziehungsweise das -system können betroffen sein. Die Krisen können nur einzelne Aspekte einer Gesellschaft betreffen und zeugen dann von eher kleinen inhärenten strukturellen Problemen, oder sie können sich übereinander lagern zu immer größeren Krisen als Folge massiver Strukturprobleme. Dann droht, als schlimmste Form einer Kongruenz vieler oder aller Krisen, sogar Krieg.

Doch zurück zur Medizin. Die Medizin, die westliche Medizin, steckt derzeit in einer tiefen Krise, einer regelrechten Sinnkrise. Man weiß nicht, wie es weitergehen soll. Die Therapien werden zwar immer besser, Hepatitis C kann mittlerweile geheilt und viele Krebsarten in Remission gebracht werden, dennoch scheint dieser Fortschritt nicht mehr ausreichend. Es gibt immer mehr Menschen mit chronischen Erkrankungen, also nicht heilbaren, sondern palliativ zu behandelnden Erkrankungen, und die hierfür eingesetzte Medikamente werden unerschwinglicher für scheinbar immer mehr verarmende Menschen. Ärzte geraten zunehmend unter Druck, sowohl von den Medien, dem Rechtssystem, der Politik und selbst der früher als so trivial empfundenen Krankenhaus- oder Klinikverwaltung.

Auch der Ärztestand schaut immer kritischer auf sich selbst und diskutiert seine hohe Selbstmord- und Burnout-Raten. Das Verhältnis Krankenpflege und Arzt scheint bröckeliger geworden zu sein, eben in dem Maße, wie die ärztliche Autorität löchriger geworden scheint. Dazu gesellt sich eine Feminisierung des Arztstandes und zunehmender Wunsch, aus der Berufung „Arzt“ eben doch nur eine Tätigkeit, einen „Job“, wie man im anglisierten Deutsch sagt, zu machen.

Auf diese vielfältigen Verwerfungen pfropft sich also die Frage nach dem Sinn der Medizin. Soll die Forschung so weitermachen? Darf die Pharmaindustrie immer unerschwinglichere Preise für zum Teil nur noch marginal bessere Medikamente verlangen? Wie geht man mit dem Eindringen der EDV als neuen Machtfaktor um? Wird aus dem nach Autonomie rufenden Patienten ebenfalls ein neuer Taktgeber für den im System immer schneller tanzenden Arzt?

Ärzte wenden sich in Scharen ab von der westlichen Medizin, so scheint es mir zumindest. Ich war auf zwei Konferenzen, überfüllten Konferenzen, mit enormem Andrang. Die Themen „chinesische Medizin“, „Ayurverda“ (also indische Medizin), indianischer Schamanismus, Musiktherapie mit Tibetklangschalen, Homöopathie und viele andere Dingen erfreuten sich großer Beliebtheit. Vor wenigen Jahrzehnten hätte man all das mit einer Handbewegung noch als Esoterik beseite gewischt, nun aber steht es im Zentrum des Interesses.

Aufmerksam lauschten wir Ärzte den Vorträgen. Morgens besuchten wir die Meditationsübung, um dann im Laufe des Tages zu einem Indianerlied und einer Indianertrommel in Trance zu versinken. Natürlich war ich ebenfalls bei den meisten Veranstaltungen dabei, bin ja selbst eingebettet in diese krisenhaften Zeiten. Dennoch meine bange Frage: Wo führt all das bloß hin?

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