Im Schatten der Mayo Clinic
Es ist nicht leicht, im Schatten eines berühmten Bruders zu leben. Mein Lehrkrankenhaus ist zwar ein überregional sehr bedeutendes Krankenhaus, aber die riesige Mayo-Clinic knapp 150 km südlich von uns ist sowohl national als auch international berühmt; viele sagen sogar sie sei Weltklasse. Es passiert häufiger, dass interessante Patientenfälle mit seltenen Erkrankungen für eine Zweitmeinung zur Mayo Clinic gehen, von denen etliche dann auch zur Behandlung und Betreuung dort bleiben.
Aber auch international kommen Menschen aus allen Winkeln der Erde zur Behandlung in die Mayo Clinic. Obwohl sie in einer Kleinstadt, nämlich Rochester, gelegen ist, erklärt diese große Anziehungskraft, wieso so viele Veröffentlichungen hier produziert werden, wie sie es schafft, ein derartiges Patientenvolumen zu haben.
Doch wie gut ist sie? Da muss ich mangels eigener Erfahrungen auf Ranglisten verweisen. Die prestigeträchtigen und bekannten „US-News”-Ranglisten führen sie beispielsweise in fast allen Kategorien an höchsten Plätzen an: Die Diabetes-, Gastroenterologie- und Gynaekologieabteilungen gelten zum Beispiel als die allerbesten in den USA und selbst nicht ganz so exzellente Bereiche wie die Onkologie oder die Psychiatrie sind immerhin auf Platz 4 und Platz 9 zu finden. Siehe http://health.usnews.com/best-hospitals/rankings
Dieses Im-Schatten-Leben-des-berühmten-Bruders frustriert uns Nicht-Mayo-Assistenzärzte gelegentlich. Beispielsweise nahm ich einen Patienten mit Myelofibrose auf, der davon schwärmte, wie exzellent man diverse Krankheiten bei “Mayo” behandele und wie grandios das Krankenhaussytem sei. Dass er mir dadurch das Gefühl gab, ihm nicht eine ganz so vollwertige Behandlung wie an der Mayo Clinic liefern zu können, schien ihm nicht weiter aufzufallen. Selbst die Tatsache, dass er kuerzlich zwölf Tage wegen post-operativen Komplikationen im Rahmen einer Splenektomie dort hatte bleiben müssen, hatte seine euphorische Meinung nicht trüben können.
Eine andere Patientin mit bei uns diagnostiziertem B-Zell-Lymphom und rarer Erstmanifestation als Perikardialtumor fragte meinen Kollegen, ob sie nicht lieber zur Mayo Clinic gehen solle. Er erzählte ihr zwar, dass ihre Chemotherapie – R-CHOP – dort wohl auch nicht anders sei als bei uns, und man auch dort nur mit Wasser kochen würde, aber am Ende stellte er doch auf ihren Wunsch hin den Kontakt mit einem Mayo-Onkologen her. Die Situation bedrückte ihn ein wenig.
Die schöne Kehrseite dieses Im-Schatten-Lebens-von-Mayo: Kürzlich diagnostizierte ein Kollege eine seltene Erkrankung (“Polychondritis atropicans”), die man in der Mayo Clinic nicht hatte diagnostizieren koennen. Es herrschte Feierstimmung als wäre es Weihnachten und Neujahr zugleich.
Da unser Krankenhaus in vielen der US-News-Ranglisten unter den obersten 50 und zum Teil auch 20 anzutreffen ist, wir allermodernste therapeutische und diagnostische Möglichkeiten haben, hart arbeiten und das Gefühl haben, gute Ärzte zu sein, ist es manchmal frustrierend, im Schatten dieses großen Krankenhausbruders leben zu müssen.
Aber selbst wir Ärzte sind nicht immun gegenüber diesem Mayo-Syndrom: Einer in unserem Programm hat eine schwer zu behandelnde rheumatoide Arthritis und erhält derzeit immunmodulatorische Medikation, aktuell Adalimumabinjektionen. Trotz diverser Medikationsversuche ist die Rheumaerkrankung nur in Teilremission. Als sie kürzlich erzählte, dass sie eine Zweitmeinung bei der Mayo Clinic einholen wolle, rollten wir alle nur mit den Augen.
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