Zu viele Spezialisten?
Es war meine erste Nachtschicht in einem mir bis dahin wenig bekannten kleinen ländlichen Krankenhaus in Minnesota. Es war ein schöner Spätsommertag und eigentlich zu schade, um ihn arbeitend zu verbringen – aber in den USA arbeitet man als Arzt bekanntermaßen viel.
Ich bin mittlerweile erfahren darin, in unterschiedlichen Krankenhäusern zu arbeiten, habe knapp zehn verschiedene Krankenhäuser in den letzten zwei Jahren kennenlernen können, mache das sogar ganz gerne, und war daher nicht weiter besorgt, diese Nachtschicht zu machen. Ich hatte sogar vormittags in einem anderen Krankenhaus Visite gemacht und fühlte mich irgendwie bereit, noch mehr Patienten zu sehen, noch mehr zu arbeiten. Komisches Gefühl.
Um 21 Uhr abends erhielt ich plötzlich einen Notanruf auf mein Krankenhaustelefon: Eine 80-jährige Patientin, die mit Schlüsselbeinbruch und allgemeiner Schwäche vor zwei Tagen aufgenommen worden war, war innerhalb weniger Minuten schwerst luftnötig und nicht ansprechbar geworden. Ich eilte zum Patientenzimmer und traf zwei Minuten später bei der mir unbekannten Patientin auf der mir unbekannten Station bei mir großteils unbekannten Krankenschwestern ein. Ich war der einzige Arzt im Zimmer, der einzige auf Station, der einzige der in dem Moment zur Verfügung stand.
Schnell war klar, daß die Patientin intubiert werden musste, dass wir intravenöse Zugänge brauchten, Blutentnahme, CT-Diagnostik und allerlei andere Interventionen zu machen waren. Für all diese Dinge wurden eigens dafür zugewiesene Personen angepiepst und eilten einer nach dem anderen ins Zimmer. Außerdem war schnell klar, dass die Patientin nicht in diesem ländlichen Krankenhaus bleiben konnte – spätestens als ich die Beamtungsmaschine, das völlig veraltete Gerät, sah musste ich das lächelnd einsehen.
Während also die Diagnostik lief, ich zum Teil bei allem mithalf, allerlei Anweisungen gab und Diagnostik erhielt und interpretierte, musste ich die Hubschrauberverlegung in das große Hauptkrankenhaus der Mayo-Klinik veranlassen. Ich rief den Intensivmediziner – aber erst einmal mußte ich die Nummer finden – an, der mir nach wenigen Minuten klar machte, dass ich aufgrund einer eher als geringgradig einzustufenden EKG-Veränderung den kardiologischen Intensivmediziner kontaktieren sollte.
Er fühle sich nicht verantwortlich. Bumm, bzw. im Zeitalter der digitalen Telefone wird gedrückt, es wurde aufgelegt. Dieser spezialisierte Kardiologe meinte ebenfalls, nachdem ich die Befunde kurz mit ihm besprach, dass er nicht zuständig sei und ggf. der neurologische Intensivmediziner die Patientin annehmen sollte. Bumm, wieder aufgelegt. Und so sprach ich mit einem Arzt nach dem anderen – auch den Notaufnahmearzt kriegte ich an die Strippe – bis die Patientin, die ich zum CT begleitet hatte, nebenbei die CTs selber befundend (Verdachtsdiagnose Lungenembolie und ggf. Aspirationspneumonie), den hervorragend mitarbeitenden Krankenschwestern Anweisungen gebend, via Hubschrauber in die Luft und zum Mayo-Klinik-Krankenhaus entschwunden war und somit die Ärzte dort vor vollendete Tatsachen stellte.
Es war selbst während des Fluges nicht ganz klar, wohin sie gehen sollte, und das wurde bis zur letzten Minute mit mir debattiert – am Ende kam sie, wie schon von Anfang von mir gewollt, auf die allgemeine medizinsiche Intensivstation. Immerhin ging es ihr besser durch die Interventionen und war nun am richtigen Ort.
Aber ein schaler Nachgeschmack blieb: Zuviele Spezialisten verderben zwar nicht unbedingt den Brei, aber machen es deutlich schwieriger, ihn herzustellen. Das ist typisch für die USA: Es gibt dort sehr viele Spezialisten, ein Fachmann für fast alles. Es wurde mir einmal mehr bewusst, dass man das System gut kennen muss, um den richtigen Spezialisten zum richtigen Zeitpunkt an der Hand zu haben, denn sonst verliert man viel Zeit beim Suchen und Herumtelefonieren.
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