Medizin

Schädel-Hirn-Trauma: Liberale Transfusionsstrategie bleibt in Studie ohne klare Vorteile

  • Mittwoch, 19. Juni 2024
/steph photographies, stock.adobe.com
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Québec – Eine liberale Transfusionsstrategie, die den Hämoglobinwert auf über 10 g/dl anhebt, hat in einer randomisierten Studie die neurologische Erholung von Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma nur tendenziell verbessert. Günstige Ergebnisse gab es der Publikation im New England Journal of Medicine (2024; DOI: 10.1056/NEJMoa2404360) zufolge in einigen Aspekten der funktionalen Unabhängigkeit und in der Lebensqualität.

Die meisten Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma entwickeln eine Anämie. Da der Mangel an Erythrozyten die Sauerstoffversorgung des Gehirns gefährdet, besteht die logische Behandlung in der Gabe von Bluttransfusionen. Ein Vorteil für die Patienten konnte in früheren Studien jedoch nicht belegt werden.

Im Gegenteil: In einer Studie der „Canadian Critical Care Trials Group“ hatte eine restriktive Transfusionsstrategie, bei der die Patienten erst Erythrozytenkonzentrate erhielten, wenn das Hämoglobin (Hb) auf unter 7 g/dl abgefallen war, bessere Ergebnisse erzielt. Es starben signifikant weniger Patienten im Krankenhaus (NEJM, 1999; DOI: 10.1056/NEJM199902113400601). Eine spätere Studie an Kindern fand ebenfalls keine Vorteile für eine liberale Transfusionsstrategie (NEJM, 2007; DOI: 10.1056/NEJMoa066240).

Diese Studien waren jedoch bei Patienten durchgeführt worden, die aus unterschiedlichen Gründen auf einer Intensivstation behandelt wurden. Der Anteil mit Schädel-Hirn-Trauma war gering. Die „Canadian Critical Care Trials Group“ hat deshalb eine neue Studie (HEMOTION) durchgeführt, die auf erwachsene Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma beschränkt war. Diese Patienten haben nach Einschätzung von Neurologen das höchste Risiko, bei einer Anämie durch den damit verbundenen Sauerstoffmangel zu Schaden zu kommen.

Zwischen September 2017 und April 2023 wurden an 34 Kliniken in Kanada, Großbritannien, Frankreich und Brasilien 742 Patienten auf die beiden Strategien randomisiert. Der primäre Endpunkt war ein ungünstiger Ausgang in der erweiterten „Glasgow Outcome Scale“ (GOS-E) nach sechs Monaten. In einer sogenannten „Sliding Dichotomie“ wurden die Teilnehmer nach den initialen GOS-E-Werten in Gruppen aufgeteilt, um die Wirkung der Therapie bei verschiedenen Schweregraden des Schädel-Hirn-Traumas besser berücksichtigen zu können. Die Studie hatte zudem zahlreiche sekundäre Endpunkte zu Mortalität, funktioneller Unabhängigkeit, Lebensqualität und Depressionen nach sechs Monaten.

Die meisten Patienten waren Männer (72,7 %), das Durchschnittsalter betrug 48,7 Jahre und 73,2 % hatten ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten mit einem mittleren motorischen „Glasgow Coma Score“ von 4. Der Hb-Wert bei der Aufnahme lag bei durchschnittlich 9,1 g/dl.

In der Gruppe mit einer liberalen Transfusionsstrategie erhielten fast alle Patienten (98,9 %) Bluttransfusionen, die den Hb-Wert auf 10,8 g/dl erhöhten. In der Gruppe mit restriktiver Transfusionsstrategie erhielt nur jeder dritte Bluttransfusionen (38,4 %). Dabei wurde ein mittlerer Hb-Wert von 8,8 g/dl erreicht. Bei insgesamt 722 Patienten wurde das Protokoll eingehalten.

Wie François Lauzier von der Université Laval in Québec und Mitarbeiter berichten, kam es in der Gruppe mit liberaler Strategie bei 249 von 364 Patienten (68,4 %) zu einem ungünstigen Ausgang gegenüber 263 von 358 Patienten (73,5 %) in der Gruppe mit restriktiver Strategie. Die liberale Strategie war demnach im Vorteil, doch die adjustierte Differenz von 5,4 Prozentpunkten verpasste mit einem 95-%-Konfidenzintervall von −2,9 bis 13,7 Prozentpunkten die statistische Signifikanz. Ein Vorteil der liberalen Strategie war damit nicht sicher belegt.

Ein Viertel der Patienten überlebte das Schädel-Hirn-Trauma nicht. Zwischen der liberalen Strategie (26,8 %) und der restriktiven Strategie (26,3 %) gab es keine Unterschiede. Bei den überlebenden Patienten erzielte die liberale Strategie einen leichten, aber signifikanten Vorteil von 4,34 Punkten (0,22-8,45) im „Functional Independence Measure“ (der von 18 bis 126 Punkten reicht). Die Patienten beurteilten ihre Lebensqualität auf der visuellen Analogskala EuroQol, die von 0 bis 100 reicht, ebenfalls etwas besser (0,06 Punkte; 0,01 bis 0,10 Punkte). Im „EQ-5D-5L-Utility-Index“-Score und im „Qolibri“-Score gab es ebenfalls leichte Vorteile, nicht aber bei den Depressionen.

Die Bluttransfusionen haben sich laut Lauzier als sicher erwiesen. Venöse thromboembolische Ereignisse traten in beiden Gruppen bei 8,4 % der Patienten auf. Ein akutes Atemnotsyndrom war unter der liberalen Strategie mit 3,3 % versus 0,8 % häufiger.

Insgesamt lässt sich aus den Daten kein sicherer Vorteil der liberalen Strategie ableiten. Dennoch titelt die Pressemitteilung, dass nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma mehr Bluttransfusionen bessere Ergebnisse bedeuten könnten. Begründet wird dies mit den günstigen Ergebnissen in den sekundären Endpunkten. In der Publikation wird dagegen klar festgestellt, dass die liberale Transfusionsstrategie das Risiko eines ungünstigen neurologischen Ergebnisses nach sechs Monaten, gemessen mit dem GOS-E, bei kritisch kranken Patienten mit traumatischer Hirnverletzung nicht gesenkt hat.

Derzeit laufen weitere Studien. Die belgische TRAIN-Studie (NCT02968654) vergleicht die Schwellenwerte von 7 g/dl und 9 g/dl bei Patienten mit traumatischer Hirnverletzung, Subarachnoidalblutung und intrazerebraler Blutung. An der nordamerikanisch-australischen SAHaRA-Studie nehmen nur Patienten mit Subarachnoidalblutungen teil (NCT03309579). Die US-amerikanische BOOST3-Studie untersucht die Kombination aus einer besseren Oxygenierung des Gehirns mit einer Senkung des Hirndrucks (NCT03754114). Ein ähnliches Ziel verfolgt die australisch-neuseeländische BONANZA-Studie (ACTRN12619001328167).

rme

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