Politik

Stationsäquivalente psychiatrische Behandlung: Kliniken halten Ausbau für sinnvoll

  • Montag, 28. August 2023
/picture alliance, Marijan Murat
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Berlin – Die Deutsche Krankenhaus Gesellschaft (DKG) sieht die Stationsäquivalente psychiatrische Behand­lung (StäB) als eine für Patienten und Klinikmitarbeitende wichtige und zeitgemäße Alternative zur statio­nären Versorgung. Das wurde kürzlich auf einer Onlinetagung der DKG deutlich.

„Ich bin überzeugt, dass wir die StäB weiterentwickeln sollten. Die Patienten profitieren von der Behandlung im häuslichen Umfeld ebenso wie innovationsfreudige Mitarbeiter“, sagte Gerald Gaß, Vorstandvorsitzender der DKG. Er hoffe, dass Bedenken, die gegen die StäB noch existierten, ausgeräumt werden könnten, denn sie sei eine „Chance für die Versorgung“.

Seit Januar 2018 haben psychiatrische Kliniken und Fachabteilungen die Möglichkeit, schwer psychisch kran­ke Menschen mit mobilen multiprofessionellen Klinikteams unter ärztlicher Leitung zu Hause zu behandeln. Die StäB soll flexibler auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten eingehen und sie soll vor allem Klinik­aufenthalte vermeiden helfen.

Voraussetzung dafür ist, dass die Patienten eine Indikation für eine stationäre Behandlung haben und dass das Therapieziel am ehesten im häuslichen Umfeld zu erreichen ist. So steht es in der „Vereinbarung zur Sta­tionsäquivalenten psychiatrischen Behandlung“ nach Paragraf 115 d Sozialgesetzbuch V (SGB V). Die aufsu­chende Behandlung erfolgt in der Regel über sechs bis zwölf Wochen täglich.

„Die StäB ist ganz im Sinne der Psychiatriereform mit dem Ziel ‚ambulant vor stationär‘ und deshalb wichtig“, sagte Gerhard Längle, Regionaldirektor Alb-Neckar und stellvertretender Geschäftsführer am Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg.

Aber es müssten noch mehr Kliniken StäB implementieren. Die vergangenen Jahre seit der Einführung 2018 seien schwierige gewesen: die Coronapandemie, der Krieg gegen die Ukraine und die Klimakrise. Auch die Krankenkassen hätten diese Versorgungsform nicht unterstützt, sondern seien „eher als Verhinderer aufgetre­ten“, so Längle.

Der Leiter der AG StäB der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nerven berichtete, dass derzeit mehr als 60 Kliniken StäB anbieten. Diese Zahl erhebe zwar keinen Anspruch auf Voll­ständigkeit, sei aber doch recht belastbar. Viele Kliniken seien in Vorbereitung und manche begännen klein, bevor sie sich meldeten, daher gebe es eine gewisse Unschärfe. Zudem kämen in jedem Quartal einige dazu.

Diese Kliniken verteilten sich auf elf Bundesländer mit einer Verdichtung in Baden-Württemberg, Berlin/Bran­denburg und Hessen. Im Bereich des ZfP Südwürttemberg gibt es Längle zufolge zehn Teams an acht Stand­orten; 3.000 Fälle sind bisher dort behandelt worden. In Baden-Württemberg unterstütze das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration die StäB besonders. Jede Klinik, die diese Versorgungsform anbietet, erhalte 15 zusätzliche Betten, berichtete der Experte.

„Die meisten Kliniken, die mit StäB-Teams arbeiten sind begeistert davon“, betonte Längle. Die Umsetzung sei gut möglich, weil keine zusätzlichen Gebäude nötig seien und auch die Finanzierung gesichert. Auch müssten keine stationären Betten frei gegeben werden für die StäB. Zudem biete diese Versorgungsform neue Möglich­kei­ten der Patientensteuerung bei Belegungsschwankungen. Darüber hinaus sei sie die ressorcenschonendere Variante, da kein Personal für die Pflege oder für Nachtwachen benötigt würde.

Auch der Geschäftsführer von Vitos, einem Gesundheits- und Sozialdienstleister in Hessen, sieht die StäB als Chance. „Ich bin überrascht, dass die Implementierung eher zögerlich ist, obwohl der Trend dorthin geht“, sagte Phillip Schlösser. Psychische Erkrankungen nähmen zu und der Fachkräftemangel potenziell ebenso.

Mit der Flexibilisierung der Arbeitsmodelle wolle Vitos mehr Mitarbeitende gewinnen. Die StäB biete den Mitarbeitenden eine eigenverantwortlichere Tätigkeit als die auf Station. Vitos baue grundsätzlich den Anteil von Home-Treatment, Tageskliniken und ambulanter psychiatrischer Akutbehandlung zuhause aus, berichtete der Geschäftsführer.

„In Hessen ist die stationsäquivalente Behandlung inzwischen gut etabliert und entwickelt sich dynamisch. Wegen der schwierigen Rahmenbedingungen in den Kliniken haben wir in der Coronapandemie sogar mehr StäB angeboten“, betone Schlösser.

Die Vorteile seien deutlich: Patienten würden erreicht, die nicht in die stationäre Psychiatrie gehen würden, wie Mütter mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen, Patienten mit Behinderungen, oder auch Men­schen mit Haustieren. Manchmal verunmögliche auch die Struktur der psychischen Erkrankung einen Klinik­aufenthalt.

Herausforderungen bei Umsetzung der StäB sieht der Vitos-Geschäftsführer in den hohen Prüfquoten durch den Medizinischen Dienst (MD) jeweils zu Beginn der Etablierung der Teams. „Wir haben viele Diskussionen mit dem MD geführt, die Prüfungen ließen dann nach. Der Erfolgsfaktor war hier die Dokumentation“, berich­tete Schlösser. Darüber hinaus sei die Tourenplanung für die Patientenbesuche oftmals eine logistische He­rausforderung.

Perspektivisch sollte seiner Ansicht nach an der Weiterentwicklung der StäB im Kinder- und Jugendpsychiatri­schen Bereich gearbeitet werden, weil das Lebensumfeld von Heranwachsenden stark an der Entstehung von psychischen Erkrankungen beteiligt ist.

Das sieht auch Tina Schlüter, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Weissenhof in Schwä­bisch-Hall. „Psychische Erkrankungen in Kindheit und Jugend können mithilfe der StäB früher behandelt wer­den, außerdem verbleiben die Kinder und Jugendlichen in ihrem sozialen Umfeld“, berichtete sie. „Wir erleben darüber hinaus eine hohe Zufriedenheit und Dankbarkeit bei den Familien und meist sind große Behand­lungsfortschritte erkennbar.“

Expositionen und Übungen seien im realen Umfeld sehr effektiv, berichtete Schlüter. Außerdem könnten die störungsaufrechterhaltenden und systemischen Faktoren der psychischen Erkrankung besser erkannt und verändert werden. Eltern erlernten zudem eine co-therapeutische Rolle einzunehmen. StäB biete zudem eine gute Unterstützung bei der Schul-Reintegration.

„Wir erreichen auch unversorgte Patienten mit der StäB, die nicht zu uns in die Klinik kommen würden, weil sie Angst davor haben“, sagte Schlüter. Auch könne so Zwang reduziert werden, es sei beispielsweise keine Polizeigewalt nötig, um Patienten in die Klinik zu bringen, wenn eine psychiatrische Einweisung erforderlich ist.

Ein generelles Plädoyer für setting-übergreifende, aufsuchende, gemeindepsychiatrische Ansätze in der Be­handlung von schwer psychisch kranken Patienten hielt die Direktorin des Zentrums für Seelische Gesundheit am Helios Park Klinikum Leipzig. „Wir müssen die überzeugende internationale Evidenz von regelhaften auf­suchenden Hilfen zur Kenntnis nehmen“, sagte Katarina Stengler.

Akut und Notaufnahmen von Patienten mit psychischen Erkrankungen hätten an den Kliniken zugenommen, inklusive solche gegen den eigenen Willen. Hinzu komme die „Personalflucht“ aus den akuten Bereichen der Kliniken parallel zum Personalmangel und der Unzufriedenheit vieler Mitarbeitenden. Die Probleme der sta­tio­nären Versorgung spitzten sich zu, auch wegen der Zunahme an Dokumentationsleistungen und den Anforderungen der PPP (Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik)-Richtlinie.

„Die StäB löst nicht alle Probleme in der Psychiatrie“, sagte Stengler. Aber sie biete eine Chance mehr, um Flexibilität und Anpassungsbereitschaft an die Patienten vorzuhalten und den Mitarbeitenden mehr Einsatzmöglichkeiten anzubieten.

PB

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