Sterben mehr Menschen an COVID-19 als an der saisonalen Grippe?
In der Öffentlichkeit werden die Zahlen zu den gemeldeten Todesfällen an COVID-19 immer wieder mit den geschätzten Zahlen der jährlichen Grippe-Opfer verglichen. Dass dies ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen ist, zeigen die aktuellen Zahlen aus den USA.
Nach den von den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) veröffentlichten Zahlen sind in den Grippewellen 2013/2014 bis 2018/2019 zwischen 23.000 und 61.000 Menschen an einer Influenza gestorben. An COVID-19 sind in den USA bisher 56.977 Menschen gestorben (Stand 9. Mai). Wer diese Zahlen vergleicht, kommt zu dem Ergebnis, dass die COVID-19-Epidemie am ehesten mit einer schweren Grippe-Welle vergleichbar ist.
Der Denkfehler besteht darin, dass die Zahlen zur Grippewelle eine Schätzung sind, während es sich bei COVID-19 um gemeldete Zahlen handelt. Die Schätzungen zu den Grippe-Todesfällen beruhen auf Modellberechnungen, denen beispielsweise die Übersterblichkeit der Bevölkerung in den Wintermonaten zugrunde liegen.
Die Zahl der gemeldeten Grippe-Todesfälle ist deutlich geringer. Laut den CDC sind in diesem Jahr 6.148 Menschen gemeldet an Grippe gestorben. Das sind etwas 1/9 der gemeldeten COVID-19-Todesfälle. Aber die COVID-19-Epidemie ist noch längst nicht vorüber.
Der Wochenvergleich zeigt folgendes: Die meisten gemeldeten Grippe-Toten gab es in den USA mit 625 in der Woche vor dem 29. Februar. Der Gipfel der COVID-19 Epidemie wurde in der Woche vor dem 11. April erreicht mit 13.635 Todesfällen. Auf dem Höhepunkt starben damit mehr als 22 Mal mehr Menschen an COVID-19 als zum Höhepunkt der diesjährigen Grippe-Welle an einer Influenza (wegen Nachmeldungen zu COVID-19 können sich die Zahlen noch ändern).
Der Vergleich ist mit Fragezeichen verbunden, da die Meldebedingungen unterschiedlich sind. Bei der Grippe gibt es keine Meldepflicht. Die Angaben stammen vermutlich aus den Todesbescheinigungen. Dies könnte zu einer Unterschätzung führen. Nicht jeder Grippe-Todesfall wird als solcher gemeldet. Im Einzelfall ist es schwer, die Todesursache zu benennen, etwa wenn ein Patient mit Viruspneumonie an einer Lungenembolie stirbt.
Bei COVID-19 dürfte die Meldewahrscheinlichkeit höher sein. Aber auch bei COVID-19 werden möglicherweise nicht alle Fälle erkannt, wie eine Untersuchung der Berliner Charité für die norditalienische Gemeinde Nembro zeigt. Nembro liegt in der Nähe von Bergamo, wo es in den letzten Monaten die meisten COVID-19-Todesfälle in Italien gegeben hat.
Nembro hat etwa 11.500 Einwohner. Pro Jahr sterben zwischen 95 und 128 Menschen. In diesem Jahr wurden bis zum 11. April 2020 bereits 194 Todesfälle verzeichnet. Allein im März waren es mit 151 mehr als im gesamten Jahr davor. Während der Epidemie (zwischen dem 21. Februar und dem 11. April) starben in Nembro 166 Menschen. Als COVID-19-Todesfall wurden allerdings nur 85 gemeldet. Es muss demnach eine beträchtliche Zahl von Todesfällen gegeben haben, bei denen eine COVID-19-Erkrankung nicht erkannt wurde.
Möglich ist allerdings auch, dass einige Menschen anderen Erkrankungen erlegen sind, die sie überlebt hätten, wenn das Gesundheitssystem infolge COVID-19 nicht zusammengebrochen wäre. Eine Zuordnung wird am Ende nicht gelingen. Wie viele Menschen an COVID-19 sterben wird sich am Ende nur mit Algorithmen ermitteln lassen, die die Übersterblichkeit während der Pandemie zur Grundlage haben. Es dürften auf jeden Fall deutlich mehr sein, als während einer Grippesaison.
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