Medizin

Studie: Die meisten Krebserkrankungen sind dumme Zufälle

  • Freitag, 2. Januar 2015

Baltimore – Eine gute genetische Konstitution und ein vernünftiges Gesundheits­ver­halten mögen vor Adipositas, Typ 2-Diabetes und vielleicht auch vor Herz-Kreislauf-Eerkrankungen schützen. Die meisten Krebserkrankungen sind einer Studie in Science (2015; 347: 78-81) zufolge jedoch nicht auf Risikogene oder Umwelteinflüsse zurück­zuführen, sie sind nach Berechnungen der Forscher die Folge von zufälligen „dummen“ Kopierfehlern bei der Teilung von Stammzellen.

Die meisten Krebsforscher sind sich darin einig, dass am Anfang eines Krebswachstums Genmutationen sind. Einige dieser Mutationen führen zu unkontrollierten Zellproli­ferationen. Wenn dies der Aufmerksamkeit des körpereigenen Immunsystems entgeht, kommt es zum Krebs. Im Prinzip kann jede Zelle zum Ausgangspunkt eines Tumorwachs­tums werden.

In den meisten Fällen bilden jedoch sogenannte Stammzellen den Ausgangspunkt. Diese Zellen können das Gewebe erneuern, weil sie die Fähigkeit zur Zellteilung bewahrt haben. Die Zahl der Stammzellen und die Häufigkeit ihrer lebenslangen Zellteilungen ist für mindestens 31 Gewebe bekannt. Der Krebsforscher Bert Vogelstein und der Biosta­tistiker Cristian Tomasetti vom Johns Hopkins Kimmel Cancer Center in Baltimore haben diese Stammzellteilungszahl mit dem Lebenszeitrisiko von Krebserkrankungen in einzelnen Geweben in Beziehung gesetzt.

Sie fanden eine signifikante Korrelation: Danach sind Krebserkrankungen im Darm deshalb sehr häufig, weil es dort in der Schleimhaut viele Stammzellen gibt, die sich häufig teilen. Im Dünndarm sind Krebserkrankungen seltener, weil die Zahl und Teilungsbereitschaft von Stammzellen geringer ist. (Bei der Maus ist es umgekehrt, weshalb diese Tiere häufig an Dünndarm-, aber selten an Dickdarmkrebs erkranken). Am seltensten sind Krebserkrankungen beim Menschen im Knorpel oder Knochen, weil es dort die wenigsten sich teilenden Stammzellen gibt.

Vogelstein und Tomasetti ermitteln einen Korrelationskoeffizienten von 0,804, der mit einem 95-Prozent-Konfidenzintervall von 0,63 bis 0,90 signifikant ist, was die Aussage der Autoren unterstreicht. Sie schätzen, dass generell gesehen 65 Prozent aller Krebserkrankungen die Folge von Kopierfehlern bei der Vermehrung von Stammzellen sind (mathematisch ist 0,65 das Quadrat des Korrelationskoeffizienten 0,804).

Die Aussage, dass 65 Prozent aller Krebserkrankungen die Folge von „dummen“ Kopierfehlern bei der Zellteilung sind, ist bei einem 95-Prozent-Konfidenzintervall von 39 bis 81 Prozent sicherlich zurückhaltend zu beurteilen. Sie gilt auch nicht für alle Krebserkrankungen gleichermaßen. Für Darmkrebs gibt es genetische und für Lungenkrebs häufig Umweltgründe (sprich in erster Linie Rauchen).

Vogelstein und Tomasetti haben hierzu einen „extra risk score“ (RSC) berechnet. Er fällt mit 18,49 am höchsten für die familiäre adenomatöse Polyposis (FAP) des Dickdarms aus. Bei dieser autosomal-dominant vererbten Erkrankung ist die Schleimhaut mit Polypen übersät. An zweiter Stelle folgt mit einem RSC von 14,86 das Lynch-Syndrom (eine Darmkrebsveranlagung, die nicht mit Polypen einhergeht). Position drei belegt das Basalzellkarzinom der Haut (RSC 11,93), bei dem Mutationen durch UV-Strahlen der Auslöser sind.

Platz vier entfällt auf den Lungenkrebs des Rauchers (RSS 7,61), vor Kopf-Halstumoren durch HPV-Infektionen (RSC 6,93), Leberkrebs durch Hepatitis C (RSC 5,36), dem FAP des Duodenums (RSC 4,09), dem kolorektalen Adenokarzinom (RSC 2,58) und follikulärem beziehungsweise papillärem Schilddrüsenkarzinom (RSC 1,05). Bei allen anderen Krebserkrankungen sind Gene oder Umwelteinflüsse nach den Berechnungen von Vogelstein und Tomasetti von untergeordneter Bedeutung. Hier überwiege der Zufall.

rme

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