Studie empfiehlt Abschaffung der diagnosebezogenen Fallpauschalen

Düsseldorf – Die diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRG) erzeugen Personallücken, Pflegeengpässe und Privatisierungsdruck. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie des Gesundheitssystemforschers Michael Simon von der Hochschule Hannover. Der Wissenschaftler empfiehlt, die Fallpauschalen abzuschaffen.
Laut der Analyse macht das DRG-Fallpauschalen-System gegenwärtig 70 bis 90 Prozent der Budgets von deutschen Allgemeinkrankenhäusern aus. Aktuell umfasst der DRG-Katalog rund 1.300 Fallpauschalen.
Die Höhe der Pauschalen wird jährlich neu kalkuliert auf Basis der durchschnittlichen Behandlungskosten, die in 250 bis 300 Kliniken erhoben werden. In Kombination mit Mengenkontingenten für verschiedene Leistungen, etwa Operationen, deckelt das System die Gesamtausgaben für stationäre Krankenhausleistungen in Deutschland.
Was auf den ersten Blick wie ein recht differenziertes Verfahren wirken mag, entpuppt sich nach Aussage des Experten jedoch als grobes, oft intransparentes Raster, das auf unterschiedlichen Ebenen hoch problematische Wirkungen erzeugt. Das beginne bei der Definition der Fallgruppen.
Simon kritisierte das System als „in hohem Maße medizinisch inhomogen“. Es fasse etwa Patienten mit teilweise sehr unterschiedlichen Diagnosen und Behandlungsarten zu gleichen Fallgruppen zusammen. So entstünden „Kostenunterschiede, die es für Krankenhäuser lukrativ machen, selektiv nur wenig kostenaufwändige Patientengruppen zu behandeln und die anderen entweder abzuweisen oder an andere Krankenhäuser weiterzuleiten.“
Ein Glücksspiel
Diese Verzerrung werde verschärft dadurch, dass die Stichprobe der Kliniken, deren Daten in die Kalkulation der Fallpauschalen einfließen, nicht repräsentativ für die Gesamtheit der deutschen Krankenhäuser sei. Auch dadurch erscheine die jährliche Neufestsetzung der Pauschalen aus Sicht vieler Krankenhäuser als „eine Art Glücksspiel“.
Noch gravierender aus Sicht des Forschers: Bei der Kalkulation der Pauschalen wird den erhobenen durchschnittlichen Kosten nicht systematisch die dabei erreichte Behandlungsqualität gegenübergestellt. Beispielsweise flössen keinerlei Daten zur „Strukturqualität“ in den Krankenhäusern ein, also etwa der Personalausstattung auf den Stationen. So sei im DRG-System auch nach 15 Jahren „vollkommen unbekannt, welche Qualität hinter den ermittelten Durchschnittskosten steht.“
Die Folge: Im Bemühen, den Durchschnitt nicht zu überschreiten oder gar zu unterbieten, sparten Krankenhausmanager beim größten Posten in ihrer Kalkulation – und zwar bei der Belegschaft. So „bestraft das DRG-Fallpauschalen-System eine überdurchschnittlich gute Personalbesetzung mit Verlusten und belohnt Unterbesetzung mit Gewinnen“, sagte Simon.
Privatisierungswelle ausgeslöst
Dadurch habe das DRG-System sehr problematische Entwicklungen ausgelöst oder verstärkt. Dazu gehört dem Wissenschaftler zufolge die dramatische Unterbesetzung in der stationären Krankenpflege.
Außerdem habe das Fallpauschalensystem eine Privatisierungswelle angeschoben, durch die es erstmals in der Bundesrepublik weniger Allgemeinkrankenhäuser in öffentlicher Trägerschaft gebe als Kliniken, die zu privaten, gewinnorientierten Konzernen gehören. Dieser Trend könnte sich sogar weiter verschärfen, wenn Einnahmeausfälle durch die Coronapandemie nicht ausreichend ausgeglichen würden.
Simon kommt zu dem Schluss, dass nur ein neues Vergütungssystem helfen kann, aus der Misere herauszukommen. Dieses sollte von einer qualitätsorientierten staatlichen Krankenhausplanung ausgehen und die wirtschaftliche Sicherung aller Krankenhäuser gewährleisten, die auf dieser Basis als bedarfsgerecht eingestuft werden. Laut Simon sind dazu in letzter Zeit durch die Ausgliederung der Pflegebudgets aus dem DRG-System erste Schritte gemacht worden. Nun gelte es, diese fortzuführen.
Maria Klein-Schmeink, stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Sprecherin für Gesundheitspolitik der Grünen sieht in den Fallpauschalen jedoch nicht die einzige Ursache für den Abbau von nichtärztlichem Personal im Krankenhaus: „Seit Jahren kommen die Länder ihrer Verpflichtung zur Finanzierung der Investitionskosten nicht nach, die Krankenhäuser sind somit gezwungen, auch notwendige Investitionen aus Betriebsmitteln zu finanzieren“, sagte sie. Darum habe eine stabile Investitionskostenfinanzierung höchste Priorität.
„Damit nicht mehr zulasten der Pflege gespart werden kann, wurden 2019 die Pflegekosten aus den Fallpauschalen ausgegliedert. Tarifliche Bezahlung wird refinanziert. Es kommt nun darauf an, das Pflegebudget mit einer fundierten Personalbemessung zu verknüpfen“, so die Politikerin.
Ihr zufolge ist das DRG-System reformbedürftig. Nach der Ausgliederung der Pflege sei jetzt ein guter Zeitpunkt zur Umstellung. „Wir wollen den Anteil fallzahlunabhängiger Leistungen erhöhen. So sollten die DRGs um eine strukturelle Finanzierung der Kosten zur Vorhaltung bedarfsnotwendiger Leistungen sowie zum schnellen Aufbau notwendiger Reservekapazitäten ergänzt werden“, sagte Klein-Schmeink.
Auch eine stärkere Differenzierung der Fallpauschalen nach Versorgungsstufen ist nach ihrer Einschätzung notwendig. Maximalversorger und Universitätskliniken, die schwerere Fälle behandeln und dafür gut ausgebildete Ärzte und Pflegekräfte sowie technische Kapazitäten vorhalten, hätten eine andere Kostenstruktur als ein Krankenhaus der Grundversorgung.
„Letztere hingegen können vor finanzielle Probleme gestellt werden, wenn sie nicht genügend Fallzahlen für eine ausreichende Finanzierung von nötigen Vorhaltekosten haben, etwa weil die Region dünn besiedelt ist“, erklärte die Sprecherin.
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