Studie: Influenza-Hochdosisimpfstoffe kosten mehr als sie nutzen

Berlin – Die Verwendung von Influenza-Hochdosisimpfstoffen bei über-60-Jährigen verursacht im Vergleich zur ausschließlichen Verwendung von Standardimpfstoffen deutlich höhere Kosten, denen nur ein geringer Einfluss auf die Infektionszahlen gegenübersteht. Zu diesem Ergebnis kommt eine heute erstmals vorgestellte Studie des Gesundheitsökonomen Jürgen Wasem.
Der Studie liegt eine Debatte um die dahingehenden Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) zugrunde: Nachdem im Mai 2020 in Deutschland der erste Hochdosisimpfstoff gegen Influenza zugelassen worden war, folgte noch im gleichen Jahr STIKO-Empfehlung zur ausschließlichen Anwendung bei Versicherten ab 60 Jahren.
Den dadurch ausgelösten Fachdiskurs über die zukünftig möglicherweise eingeschränkte Erstattungsfähigkeit anderer Influenzaimpfstoffe sowie die damit einhergehenden gesundheitsökonomischen Auswirkungen soll die Studie nun mit Zahlen und Daten untermauern.
Dazu haben Jürgen Wasem, Inhaber des Lehrstuhls für Medizinmanagement an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Duisburg-Essen, sowie das Essener Forschungsinstitut für Medizinmanagement GmbH (EsFoMed) im Auftrag der Viatris-Gruppe Deutschland in einer gesundheitsökonomischen Studie die epidemiologischen und finanziellen Auswirkungen unterschiedlicher Grippeschutzimpfstrategien in Deutschland untersucht.
Dabei verglichen sie die Anwendung eines inaktivierten quadrivalenten Hochdosisinfluenzaimpfstoffs mit der von quadrivalenten Standardinfluenzaimpfstoffen in mehrereren Modellrechnungen. Dazu griffen die Studienautoren auf ein Transmissionsmodell zurück, das sich auf die Anzahl von geimpften, infizierten und genesenen Personen unter Berücksichtigung von Faktoren wie Kontaktverhalten, Impfeffektivität oder Infektionsstärke bezieht, sowie auf ein gesundheitsökonomisches Modell, das Faktoren wie die Inanspruchnahme von Arztbesuchen, Krankenhausaufenthalten und Arzneimitteln aufgrund von Influenza einbezieht.
Im gesundheitsökonomischen Modell werden dann die Kosten für die Gesetzliche Krankenversicherung den gesamtgesellschaftlichen gegenübergestellt, die beispielsweise durch Arbeitsunfähigkeit, Produktivitätsverlust bei Grippeinfektionen oder gar den Tod einer Patientin oder eines Patienten zustande kommen.
„Im Ergebnis entstehen bei den aktuellen Impfquoten deutlich höhere Kosten, wenn ausschließlich der Hochdosis-Influenzaimpfstoff in der Altersgruppe ab 60 Jahren angewendet wird. Und das mit einem nur geringen Einfluss auf die Infektionszahlen“, erklärte Wasem.
Demgegenüber könnten bei deutlich erhöhter Impfquote und bei flächendeckendem Einsatz der quadrivalenten Standard-Influenzaimpfstoffe eine beträchtliche Verringerung der Infektionszahlen bei geringeren Kosten erreicht werden.
Eine gesellschaftliche Frage
Ein gesundheitspolitischer Handlungsauftrag lasse sich daraus aber nicht ohne Weiteres ableiten: „Wir haben hier einen typischen Fall, bei dem eine neue Technologie ein wenig besser ist, aber viel mehr kostet“, betonte er heute in Berlin. „Da gibt es kein wissenschaftliches Richtig oder Falsch. Es ist letztlich eine gesellschaftliche Frage.“ Er sei überzeugt, dass Wissenschaftler letztlich kein Mandat hätten, zu entscheiden, ab wann die erhöhten Kosten bei welchem Zusatznutzen von der Solidargemeinschaft getragen werden sollten. „Es gibt Konstellationen im Gesundheitswesen, da nehmen wir höhere Mehrkosten für geringeren Zusatznutzen in Kauf“, beteuerte er.
Auch die STIKO könne er für ihre Entscheidung nicht kritisieren, schließlich habe sie einen epidemiologischen Fokus auf die Frage. Sie habe sich lediglich die Kostensteigerung pro Fall angeschaut und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass s zwar teurer sei, aber gesellschaftlich vertretbar.
Generell lasse sich aber dagegen, dass auch ohne Berücksichtigung der zusätzlichen Kosten für Impfkampagnen die Erhöhung der Impfquote und somit der flächendeckende Einsatz von Standard-Influenzaimpfstoffe ein größeres Potenzial in der Influenzaprävention zeigt und zu einer beträchtlichen Verringerung der Infektionszahlen führt.
Ausgehend von Szenario A – dem Einsatz von Standardimpfstoff auf Grundlage der Impfquoten der letzten Vor-Corona-Saison 2019/20 – verringern sich bei flächendeckender Anwendung der STIKO-Empfehlung die gesellschaftlichen Kosten leicht von 329 auf 318 Millionen Euro pro Jahr. Dafür steigen die Anschaffungskosten durch den höheren Preis des Hochdosisimpfstoffs von 230 auf 465 Millionen Euro. Die Infektionszahlen würden im Vergleich aber nur von 25,3 Millionen auf 25,1 Millionen sinken.
Würde Deutschland die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlene Durchimpfungsrate von 75 Prozent erreichen – Wasem und sein Team haben mit knapp 38,8 Prozent gerechnet, erklärte er – wären die Unterschiede noch bedeutend größer.
Dann würden die Infektionszahlen von 23,8 Millionen auf 23,3 Millionen sinken, die gesellschaftlichen Kosten währenddessen von 300 auf 281 Millionen Euro. Demgegenüber stehen aber Kostensteigerungen für die GKV von 379 Millionen Euro auf 833 Millionen Euro.
All diesen Rechnungen liegt die Annahme zugrunde, dass der Hochdosisimpfstoff 15,9 Prozent effektiver ist als der Standardimpfstoff. Eine Modellrechnung mit der Annahme von 24,2 Prozent auf Grundlage der STIKO-Empfehlung und den realen Impfquoten der Saison 2019/2020 zeigt indes kaum Unterschiede zum zweiten Szenario. Die Kosten für die GKV würden demnach bei 465 Millionen Euro bleiben, während die gesellschaftlichen Kosten leicht von 318 auf 312 Millionen Euro sinken. Die Zahl der Infektionen würde nur gering fallen, nämlich von 25,1 auf 24,9 Millionen.
Impfquoten erhöhen
Das wichtigste sei es also, die Impfquoten zu erhöhen, betonte deshalb Jörg Schelling, Facharzt für Allgemeinmedizin in Martinsried, ehemaliger Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München und Mitglied der Bayerischen Landesarbeitsgemeinschaft Impfen (LAGI).
„Aktuell verzeichnen wir einen Rückgang der Impfquoten in allen Zielgruppen der Impfung. Das ist aus Sicht der Hausärztinnen und Hausärzte alarmierend“, warnte er. Das gelte insbesondere, da in der noch andauernden Grippewelle bereits in den Monaten November und Dezember 2022 deutlich mehr Influenzafälle an das Robert-Koch-Institut gemeldet wurden als vor der Pandemie in den gleichen Monaten 2019.
Influenza habe mittlerweile deshalb eine größere Bedeutung als Corona. „Dieser Winter war aus Sicht der Versorgung ein Influenzawinter und kein Coronawinter mehr“, erklärte er.
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