Medizin

Studie: Viele Wohnungslose sind psychisch krank

  • Donnerstag, 24. Juli 2014
Uploaded: 24.07.2014 14:17:44 by mis
dpa

München – Mehr als zwei Drittel aller wohnungslosen Menschen leiden unter psychischen Erkrankungen, aber nur ein Drittel erhält eine entsprechende Versorgung. Dies geht aus einer Untersuchung der Technischen Universität München hervor, deren Autoren die „Enthospitalisierung“ seit den 70er Jahren für die Obdachlosigkeit mitverantwortlich machen.

Etwa 300.000 Menschen in Deutschland haben keine eigene Wohnung. Davon leben rund 25.000 Menschen ohne Unterkunft auf der Straße, mit steigender Tendenz: Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe prognostiziert einen Anstieg der Wohnungslosenzahlen bis zum Jahr 2016 auf 380.000 Menschen. Als Grund werden die steigenden Mieten genannt, die vor allem in den Ballungszentren bezahlbaren Wohn­raum knapp machen.

Dies ist nach Ansicht von Josef Bäuml von der Klinik für Psychiatrie des Klinikums rechts der Isar nur eine Seite der Medaille. Die andere ist eine Versorgungslücke in der psychia­­trischen Behandlung. Die Psychiatrie-Enquete 1975, die in Deutschland die Zahl der stationären Psychiatriebetten erheblich reduzierte, habe die Behandlung der Patien­ten teilweise „auf den Bürgersteig“ verlegt, schreibt Bäuml in der Zusammenfassung der SEEWOLF-Studie (Seelische Erkrankungsrate in den Einrichtungen der Wohnungs­losenhilfe im Großraum München).

So sehr vielen psychisch Kranken die „non-restriktive Lebensform“ außerhalb der Kliniken zunächst entgegenkomme, so sehr seien sie langfristig von Verwahrlosung und erhöhter Mortalität bedroht, findet Bäuml. Bereits in den 90er Jahren hatte die sogenannte Fichter-Studie festgestellt, dass psychische Erkrankungen bei wohnungslosen Menschen gehäuft vorkommen. Die SEEWOLF-Studie hat dies nach Ansicht der Autoren jetzt bestätigt.

Die Forscher hatten darin eine zufällige Stichprobe von 232 Wohnungslosen interviewt und psychiatrisch untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass die meisten Männer und Frauen bereits vor dem Verlust der Wohnung psychisch labil und verwundbar waren. 55 Prozent litten laut SKID-II, einem international anerkannten Untersuchungsinstrument, unter Persönlichkeitsstörungen. In den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe unter­gebrachte Menschen zeigten zudem im Mittel eine eingeschränkte kognitive Leistungs­fähigkeit. Ihr mittlerer IQ lag mit 85 signifikant unter dem Durchschnitt von 100.

Bei zwei Dritteln der Teilnehmer diagnostizierten die Münchner Wissenschaftler aktuell psychische Krankheiten: Rund 14 Prozent litten unter schizophrenen Erkrankungen (gegenüber weniger als 1 Prozent im Durchschnitt der Bevölkerung). Etwa 40 Prozent hatten eine Depression und bei rund 20 Prozent lagen Angsterkrankungen vor. Bei 80 Prozent wurde eine Suchterkrankung diagnostiziert, wobei Alkohol nach Einschätzung von Bäuml nicht selten mit der Absicht getrunken werde, mit den Auswirkungen der psychischen Erkrankungen besser zurechtzukommen.

Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass die Studie die psychiatrische Morbidität möglicherweise noch unterschätze: Denn gerade diejenigen mit besonders aus­geprägten psychischen Schwierigkeiten hätten eine Studienteilnahme häufig abgelehnt.

Während die körperliche Verfassung vieler Studienteilnehmer gut war, stellten die Wissenschaftler Defizite in der psychiatrischen Versorgung fest. Nur rund 30 Prozent gaben an, Psychopharmaka einzunehmen. Aus Sicht der Forscher muss deshalb die psychiatrische Betreuung der Wohnungslosen verbessert werden. Ein rasches Ende der Wohnungslosigkeit lasse sich durch Medikamente aber nicht erzielen, warnten die Autoren, zumal viele die Angebote ablehnen.

Sie schlagen deshalb die Bildung von „Schutzräumen ohne forcierte Therapiean­forderungen“ vor. Die Betroffenen benötigen ein vorübergehendes „Time-out“, um materiell und psychisch den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden. Wie diese „Sabbat“-Phase konkret ausgestaltet werden könnte, ist jedoch unklar. Für diese Art der fürsorglichen Begleitung gebe es derzeit noch kein eindeutig definiertes Versorgungs­konzept, gestehen die Forscher ein.

rme

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