Politik

Transplantations­prozess: Das Gericht ringt mit dem Begriff der medizinischen Indikation

  • Mittwoch, 25. Februar 2015

Göttingen – Für die Urteilsverkündung im Strafverfahren gegen einen ehemals an der Universitätsklinik Göttingen tätigen Transplantationschirurgen ist noch kein Termin in Sicht. Zu Beginn des Prozesses am Landgericht Göttingen, am 23. August 2013, waren 22 Verhandlungstermine angesetzt. Anfang dieser Woche verhandelte man zum 56. Mal. Die Anklage lautet auf versuchten Totschlag in elf Fällen: Es bestehe der Verdacht, dass der Chirurg während seiner Zeit an der Uniklinik Göttingen von Oktober 2008 bis November 2011 in Manipulationen von Patientendaten involviert gewesen sei mit der Absicht, dass eigene Patienten bei Leberallokationen bevorzugt würden.

In der Folge seien Patienten, die nach den Allokationsregeln tatsächlich an der Reihe gewesen wären nun aber länger warten mussten, möglicherweise gestorben. Auf Körperverletzung mit Todesfolge in drei Fällen lautet ein weiterer Anklagepunkt. Er bezieht sich auf Patienten, die nach Meinung von Staatsanwaltschaft und Nebenklage nach nicht indizierten Lebertransplantationen gestorben seien. Diese sogenannten Indikationsfälle werden für strafrechtlich relevanter gehalten als die Manipulationsfälle. Der Angeklagte weist die Vorwürfe als unrichtig zurück.      

Dissens der Gutachten
Das Gericht hatte für diese 14 Patienten zahlreiche medizinische Gutachten eingeholt, in denen die Sachverständigen teilweise zu gegensätzlichen Schlüssen kommen. Der Dissens lähmt offenbar das Gericht, das sich eine eigene Meinung bilden muss. Möglicherweise sieht es sich vor einem „Patt der Gutachten“. Die Sachverständigen sollten ihre Meinung vertreten, aber bereit sein, einen „offenen Diskurs“ zu führen ohne das Ziel, sich durchsetzen zu müssen gegenüber Kollegen mit gegenteiligen Einschätzungen, appellierte Richter Günther an die Gutachter. „Sie sollten sich auch für die Möglichkeit von Neubewertungen im Verlauf der Verhandlung öffnen.“

Einer von den für das Gericht wichtigen Indikationsfällen ist der eine 55 Jahre alt gewordenen Patientin. Sie hatte zum Zeitpunkt der Transplantation eine vermutlich alkholotoxische chronische Pankreatitis, eine Pfortaderthrombose, eine Gallengangstenose und Ösophagusvarizen – ob es aus ihnen blutete, ließ sich aus den Unterlagen nicht eindeutig rekonstruieren. Dem für die Allokation von Lebern relevanten MELD-Score (Model of End Stage Liver Disease) zufolge war die Dringlichkeit der Transplantation mit einem MELD-Wert von 6 gering. Die Patientin hatte eine neue Leber erhalten und war als Folge der Blutung aus einer Anastomose gestorben.

In der gewählten Therapiemethode sieht der Lebertransplantationschirurg Wolf Otto Bechstein, Leiter der Klinik für Allgemeine und Viszeralchirurgie der Universität Frankfurt einen Behandlungsfehler. Bechstein ist vom Gericht bestellt, um als Sachverständiger das gesamte Verfahren zu begleiten. Konservative Verfahren wären bei dieser Patientin zu diesem Zeitpunkt die Methoden der Wahl gewesen, sagte Bechstein vor Gericht, zumal präoperativ keine Biliopathie habe festgestellt werden können und außerdem ein Milzvenenverschluss vorlag, der sich durch das Operationsverfahren nicht hätte bessern lassen.

Eine portale hypertensive Biliopathie, die der Angeklagte als ein Argument für die Lebertransplantation anführt und die nach Angaben von Bechstein grundsätzlich eine Indikation zur Lebertransplantation sein kann, habe ein Pathologe erst am Paraffin­präparat der explantierten Leber festgestellt, so Bechstein. Ob die medizinische Maßnahme rückwirkend nicht doch habe gerechtfertigt sein können, fragte die berichterstattende Richterin den Gutachter.

Wenn zahlreiche Prämissen, die sich aus den Unterlagen nicht verifizieren ließen, gegeben gewesen wären, hätte eine Trans­plantation gerechtfertigt sein können, antwortete Bechstein. Prozessbeobachtern wurde allerdings deutlich, dass rückblickende Beurteilungen einer Indikationsstellung, die immer ex ante erfolgt, zusätzlich zu vielen nicht gesicherten Prämissen mit der klinischen Realität von Ärzten, zu denen Angeklagter und Gutachter gehören, wenig zu tun hat.

Der ebenfalls als Gutachter geladene Viszeralchirurg Philipp Dutkowski vom Universi­tätsspital Zürich erklärte, auch seiner Meinung nach seien konservative Methoden nicht ausgeschöpft gewesen, eine Lebertransplantation stehe erst „ganz am Ende der Entschei­dungskette“. Dass in Fällen wie diesem transplantiert werde, sei eine absolute Rarität, die Indikation könne aber gerechtfertigt sein. 

Das Gericht hatte zuvor erklärt, es gehe der Kammer bei den Fragen nach der Indikation – und damit nach möglichen Behandlungsfehlern – um negative Abgren­zungen, also darum, ob eine Indikation „unter keinen medizinischen Umständen“ gegeben gewesen sei, nicht darum, was Gutachter selbst getan, für naheliegend oder für wahrscheinlich erachtet hätten. Der Indikationsbegriff in dem Strafverfahren unterscheide sich damit von dem in der Medizin gebräuchlichen. Sowohl für manchen Gutachter, als auch für das Gericht ein Spagat.

Urteil dürfte Präzedenzcharakter haben      
Das Gericht kommt ohne den Sachverstand von Gutachtern nicht aus, mit ihnen aber scheint eine Bewertung ebenfalls ausgesprochen schwierig zu sein. Ein Urteil wird in der Transplantationsmedizin und von Juristen als Klärung der konkreten schweren Vorwürfe, aber auch im Sinne einer strafrechtlichen Präzedenzbewertung von vermuteten  Manipulationen der Warteliste und Verstößen gegen Richtlinien der Bundesärztekammer dringend erwartet. So dürfte der Ausgang des Verfahrens auch Einfluss haben darauf, wie andere Staatsanwaltschaften ihr Material zu Unregelmäßigen an einigen anderen deutschen Zentren bewerten und ob neue Verfahren eröffnet werden oder nicht. Mehrfach waren in Göttingen Urteilsverkündungen anvisiert und verschoben worden. Die aktuelle Planung läuft bis mindestens Mitte März.

nsi

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