Ausland

Trotz Protest: Bundesregierung will weiter Tränengas in Türkei liefern

  • Dienstag, 23. Juli 2013

Berlin/Ankara – Die Gewalt der Polizeikräfte gegen regierungskritische Demonstranten in der Türkei hat über die Grenzen des Landes hinaus für Empörung gesorgt. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich Mitte Juni im Privatsender RTL erschüttert über das massive Vorgehen, das nach Angaben der Ärztevereinigung Türk Tabipleri Birliği (TTB) vier Tote und mehr als 8.000 Verletzte gefordert hat.

Jetzt haben die Antworten auf zwei Kleine Anfragen der Partei Die Linke im Bundestag ergeben, dass die Bundesregierung seit 2009 Ausfuhren von Reizgasen und Abschuss­geräten im Wert von 202.000 Euro in die Türkei genehmigt hat. Dabei ist das Einver­ständnis des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle notwendig, weil Reizgase den Kontrollbestimmungen der Anlage III der Anti-Folter-Verordnung der EU unterliegen (http://www.ausfuhrkontrolle.info/ausfuhrkontrolle/de/vorschriften/antifolter_vo/dvo2011_1352.pdf). Unter anderem seien die Capsaicine Oleoresin Capsicum und Pelargonsäurevanillylamid in großem Maßstab verkauft worden.

Mehrere türkische Ärzteverbände hatten im Verlauf der Proteste Kritik an dem massiven Einsatz von Tränengas geübt. Die Polizei habe das Reizgas „nicht als Mittel zur Kontrolle von Menschenansammlungen, sondern als chemische Waffe“ eingesetzt, sagte Ümit Bicer vom Verband der Gerichtsmediziner nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP. Fachverbände schließen nicht aus, dass zwei der vier Toten auf den Einsatz von Tränengas zurückzuführen sind.

Man habe sich um die Verletzten und die Personen gekümmert, die infolge des Tränen­gaseinsatzes gesundheitliche Probleme bekommen haben“, hatte Hüseyin Demirdizen, der Generalsekretär der Istanbuler Sektion des TTB, im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt gesagt. Demirdizen geht davon aus, dass auch dem Tank der Wasserwerfer Reizgas beigemischt wurde.

Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) haben die Einsatzkräfte Tränengas-Projektile gezielt auf Demonstranten abgeschossen und diese damit verletzt. Man habe „zahlreiche Fälle von Verletzungen am Kopf oder am Oberkörper durch verschossene Tränengas-Kartuschen“ dokumentiert, heißt es auf der englischsprachigen Seite der Organisation. HRW-Türkei-Expertin Emma Sinclair-Webb verweist darauf, dass die Gasgeschosse üblicherweise in Beinhöhe oder über die Köpfe der Demonstranten verschossen werden, um die Menge zurückzudrängen.

Auch das Abfeuern von Gaskartuschen in geschlossene Räume wurde von der Menschenrechtsorganisation als rechtswidrig zurückgewiesen. Mitte Juni hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Zielen auf die Köpfe von Demon­stranten verurteilt. In dem behandelten Fall ging es um einen 13-jährigen Minderjährigen, der von einer Kartusche am Kopf verletzt worden war. Für die Ärztevereinigung TTB ist das kein Einzelfall: Sie zählte im Zuge der jüngsten Proteste in einer Auswertung, die auch dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt, elf Demonstranten, die durch entsprechende Verletzungen auf einem Auge erblindet sind.

Dieser übermäßige Einsatz von Reizgasgeschossen hatte auf dem Höhepunkt der Proteste im Juni auch für Widerspruch internationaler Ärzteorganisationen gesorgt. „Nach unseren Quellen wurden die meisten Verletzungen durch Wasserwerfer und Tränengas verursacht“, schrieb der Präsident des Weltärztebundes (WMA), Cecil B. Wilson, in einem Brief an Ministerpräsident Erdoğan. Der WMA verurteile den unverhält­nismäßigen Einsatz dieser Mittel, der womöglich als Menschenrechtsverletzung eingestuft werden müsse.

Der WMA rief die Regierung Erdoğans zugleich auf, von dem massiven Einsatz von Wasserwerfern und Reizgas zur Aufstandsbekämpfung abzusehen. In einem Schreiben an den Verband TTB bekräftigte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Frank Ulrich Montgomery, diese Position ausdrücklich. „Wir hoffen, dass der Brief (Wilsons) als starkes Signal wahrgenommen wird, dass sich die internationale Ärztegemeinschaft mit der türkischen Ärzteschaft angesichts der derzeitigen schwierigen Situation solidarisch zeigt“, hieß es in dem Brief, der dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt.

hneu

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