Medizin

Überdiagnose von ADHS und Autismus

  • Freitag, 30. März 2012
Uploaded: 30.03.2012 18:31:41 by mis
dpa

Bochum – In Deutschland wird die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung ADHS zu häufig gestellt. Dies zeigt eine Studie in den Journal of Consulting and Clinical Psychology (2012; 80: 128-138). Die Centers for Disease Control and Prevention berichten in Morbidity and Mortality Weekly Report (MMWR  2012; 61: 1-19), dass die Diagnosen an Autismusspektrums-Störung in den USA einen neuen historischen Gipfel erreicht haben. Auch wird eine Überdiagnose als Ursache diskutiert.

Die Zahl der ADHS-Diagnosen stieg in Deutschland zwischen 1989 und 2001 um 381 Prozent. Die Ausgaben für ADHS-Medikamente haben sich in einem vergleichbaren Zeitraum von 1993 bis 2003 verneunfacht. Immer mehr Kinder, vor allem Jungen werden mit Methylphenidat behandelt. Bei der Techniker Krankenkasse beispielsweise stiegen die Methylphenidat-Verschreibungen in der Zeit von 2006 bis 2010 um 30 Prozent.

Silvia Schneider und Jürgen Margraf von der Ruhr-Universität Bochum glauben nicht, dass der Anstieg allein auf eine verbesserte Diagnostik oder gar auf eine Zunahme der Erkrankung zurückzuführen ist. Ihr Verdacht: Viele Psychotherapeuten und Psychiater stellen die Diagnose zu leichtfertig.

Um dies zu überprüfen, schrieben sie zusammen mit Katrin Bruchmüller von der Universität Basel 1.000 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiater an. Sie legten ihnen zweimal vier Vignetten von typischen Fällen bei Jungen und Mädchen vor, von denen aber nur jeweils ein Junge und ein Mädchen alle Diagnosekriterien für ADHS erfüllten. Bei den anderen lag streng genommen kein ADHS vor.

Die Psychotherapeuten und Psychiater stellten dennoch auch bei 16,7 Prozent dieser Kinder die Diagnose ADHS. Bei Jungen wurde die Fehldiagnose doppelt so häufig gestellt wie bei Mädchen. Und es spielte auch eine Rolle, wer die Diagnose stellte: Männliche Therapeuten diagnostizierten signifikant häufiger ein ADHS als weibliche.

Die Autoren führen die Überdiagnose auf die Neigung vieler Psychotherapeuten und -psychiater auf eine heuristische Diagnose zurück. Sie klären nicht ab, ob die Kriterien der Diagnosemanuale erfüllt sind, sondern verlassen sich auf ihre Intuition. Im Kopf haben sie laut Schneider Fallbeispiele von prototypischen Erkrankungen, mit denen sie die aktuellen Patienten vergleichen.

Der Prototyp beim ADHS ist männlich und zeigt Symptome von motorischer Unruhe, mangelnder Konzentration oder Impulsivität. Die Nennung dieser Symptome löst bei den Diagnostikern in Abhängigkeit vom Geschlecht unterschiedliche Diagnosen aus. Treten diese Symptome bei einem Jungen auf bekommt er die Diagnose ADHS, die identischen Symptome bei einem Mädchen führen jedoch zu keiner ADHS-Diagnose.

In den USA haben neben der ADHS auch die Diagnosen von Autismusstörungen in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Nach den neuesten Zahlen der Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta beträgt die Prävalenz jetzt 11,3 auf 1.000 Kinder im Alter von 8 Jahren. Damit würde eines von 88 Kindern an einer Autismusspektrumstörung leiden. Gegenüber 2002 ist das fast eine Verdopplung.

Vor zehn Jahren betrug die Prävalenz erst 6,4 auf 1.000 Kinder oder eines auf 155 Kinder. Die CDC führt den Anstieg auf das gestiegene Krankheitsbewusstsein in Minderheiten, etwa den Hispanics zurück. Zum anderen werden aber die Diagnosekriterien zunehmend dilatativ ausgelegt.

Ein Hinweis ist die große regionale Schwankungsbreite in der Prävalenz zwischen Alabama (5,0 auf 1.000 Kinder) und Utah (40 auf 1.000 Kinder). Zum anderen hat vor allem die Zahl der „weichen“ Diagnose zugenommen. Sie erklären auch die Variabilitäten weitgehend die Prävalenzunterschiede zwischen den einzelnen Regionen in den USA. Die Zahl der Kern-Diagnosen eines Autismus mit einem verminderten (oder nicht bekannten) Intelligenzquotienten ist in allen Staaten nahezu gleich.

Viele Experten gehen davon aus, dass US-Psychiater die Diagnose einer Autismusspektrumstörungen zunehmend auf bei Kindern mit Lern- und Verhaltensstörungen stellen. Die derzeit in Vorbereitung befindliche Neufassung des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) soll dies wieder korrigieren. Das Manual wird im nächsten Jahr veröffentlicht. Die Autismus-Kriterien gehören zu den bis zuletzt kontrovers diskutierten Themen.

rme

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung