Medizin

Virus-Archäologie: HIV kam mit der Eisenbahn

  • Montag, 6. Oktober 2014
Uploaded: 04.03.2013 14:58:32 by mis
Elektronenmikroskopische Aufnahme von Hi-Viren /pa

Oxford – Der Ursprung des HI-Virus, der seit längerem in Zentralafrika vermutet wird, wird durch eine neue Untersuchung in Science (2014; 346: 56-61) geografisch weiter einge­grenzt. Das Virus könnte in 1920er Jahren in Kamerun entstanden sein. Mit dem Boot gelangte es nach Leopoldville, dem heutigen Kinshasa, von wo es per Eisenbahn in verschiedene Orte des damaligen Belgisch-Kongo verbreitet wurde.

Die Virologen sind sich einig, dass das HI-Virus von einem Affenvirus abstammt. Der wahr­scheinlichste Kandidat ist das simiane Immundefizienz-Virus (SIV), das unter den Retroviren die größte genetische Verwandtschaft mit dem HI-Virus hat. Die meisten Übereinstimmungen bestehen mit einem Stamm des SIV, der in Kamerun verbreitet ist.

Das Virus könnte, etwa durch den Verzehr von infiziertem Buschfleisch oder auch durch den Biss eines Tieres, auf den Menschen übergetreten sein. Wann und wo dies geschah, ist eine Frage, die Virus-Archäologen beschäftigt. Ihr wichtigstes Instrument ist der Vergleich der Gensequenzen verschiedener Stämme. Je höher die genetische Vielfalt der Viren in einer Region ist, desto älter ist die Epidemie. Da die Mutations­geschwindigkeit konstant ist („molecular clock“), kann sogar auf den Beginn der Epi­demie zurückgerechnet werden. Durch den Vergleich der Viren lässt sich ein Stamm­baum (Phylogenie) aufstellen und die Ausbreitung rekonstruieren.

Das Team um den Zoologen Oliver Pybus von der Universität Oxford, das 348 Gense­quenzen (des env-C2V3-Gens) aus der heutigen Demokratischen Republik Kongo und 466 Proben aus den Nachbarländern verglichen hat, kommt zu dem Schluss, dass die heutige Epidemie ihren Ausgang im Jahr 1920 in Leopoldville nahm.

Leopoldville war damals die sich rasch vergrößernde Hauptstadt der belgischen Provinz Kongo und voll von männlichen Arbeitern und Abenteurern, die ihr Geld in Bordellen ließen. Eine frühere Analyse medizinischer Aufzeichnungen hatte ergeben, dass die Prävalenz genitaler Ulzerationen, ein Indikator für die klassischen Geschlechts­krankheiten, in den 1920er Jahren bei bis zu 10 Prozent lag.

Hinzu kam, dass die Gesellschaft in hohem Maße mobil war. Leopoldville war ein Knotenpunkt der Eisenbahn mit etwa eine Million Fahrgästen pro Jahr. Bevölkerungs­explosion, Sexgewerbe und Eisenbahn schufen laut Pybus die idealen Bedingungen für einen „perfekten Sturm“ des Virus, das sich in den folgenden Jahrzehnten nach Mbuji-Mayi und Lubumbashi im Süden und nach Kisangani im Norden ausbreitete. Diese Städte waren damals mit der Eisenbahn und natürlich auch auf dem Wasserweg mit Leopoldville verbunden. Später erreichte das Virus auch Pointe-Noire, eine Hafenstadt am Atlantik.

Mbuji-Mayi könnte den Forschern zufolge der Geburtsort des Subtyps C sein, auf den heute in Afrika die Hälfte aller Infektionen entfallen. In den USA (und Westeuropa) ist dagegen der Subtyp B vorherrschend. Die Forscher vermuten, dass der Subtyp B in den 1960er Jahren nach Haiti gelangte. Der Kongo war 1962 unabhängig geworden. Damals wurden Arbeiter aus Haiti in der neuen Republik beschäftigt.

Sie könnten bei ihrer Rückkehr das HI-Virus in der Karibik etabliert haben, von wo es nur ein kurzer Weg in die USA war. Diese Hypothese hatte der kanadische Forscher Jacques Pépin in einem 2011 erschienenen Buch „The Origins of AIDS“ aufgestellt. Pépin gehörte dem aktuellen Forscherteam an und die Ergebnisse scheinen auch eine weitere Hypo­these Pépins zu bestätigen: Danach könnte die Behandlung von venerischen und ande­ren Erkrankungen durch Injektionen mit verunreinigten Spritzen an einer iatrogenen Ausbreitung beteiligt gewesen sein. Dafür spricht laut Pépin die ungewöhnlich hohe Rate von Hepatitis C-Infektionen in der Region. Außerdem soll es in den Jahren 1950/51 eine Hepatitis-Epidemie im Kongo gegeben haben.

Auch wenn Kinshasa den Ausgangspunkt einer Epidemie bildete, die in den Folgejahren zunächst ganz Afrika südlich der Sahara erfasste und sich seit den 1980er Jahren global ausbreitete, so kommt es als Entstehungsort doch nicht infrage. Pybus vermutet ihn einige hundert Kilometer weiter nördlich in Kamerun. Von allen SIV sind die dort bei Schimpansen verbreiteten Viren dem HIV am ähnlichsten. Das südliche Kamerun ist aber mit Wasserwegen ebenfalls mit dem Kongo verbunden. Das Virus könnte dort, beispiels­weise über den Fluss Sangha leicht nach Kinshasa gelangt sein.

rme

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