Wachsende Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen: Experten zeigen sich besorgt

Berlin – Mehr als eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland haben Probleme wegen ihres Medienkonsums. Das zeigen die Ergebnisse einer Längsschnittstudie der DAK-Gesundheit und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), die heute in Berlin vorgestellt wurden. Die Werte liegen nach wie vor über dem vorpandemischen Niveau.
Insgesamt betroffen sind demnach rund 1,3 Millionen Kinder und Jugendliche. Laut den Daten nutzte mehr als ein Viertel der 10- bis 17-Jährigen soziale Medien im vergangenen Jahr riskant oder pathologisch, 4,7 Prozent davon gelten als abhängig. Die Mediensucht habe sich auf einem hohen Niveau eingependelt und liege deutlich höher als noch vor fünf Jahren.
„Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen ist zu einem dauerhaften und ernsten Problem geworden“, betonte Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit. „Wenn junge Menschen ohne Ende online sind, dann schadet das häufig der Gesundheit und führt zu sozialen Konflikten“. Bei den zunehmenden Gesundheitsproblemen vieler Schüler sei die Mediensucht nur die Spitze des Eisbergs.
Im letzten Vor-Corona-Jahr 2019 lag der Anteil der Heranwachsenden mit problematischer Social-Media-Nutzung der Studie zufolge bei 11,4 Prozent. Das bedeutet einen Anstieg von 126 Prozent seitdem.
Bei digitalen Spielen zeigten der Untersuchung zufolge 12 Prozent aller Kinder und Jugendlichen ein problematisches Verhalten, 3,4 Prozent krankhaftes. 2019 seien es 12,7 Prozent problematische Nutzer mit einem Anteil von 2,7 Prozent pathologischer Gamerinnen und Gamer gewesen.
Konstant hoch seien die Zahlen beim Streaming, das erst seit 2022 in der Längsschnittstudie erfasst wird: 16 Prozent problematische Nutzer wurden für das vergangene Jahr erfasst. 2,6 Prozent gelten der Studie zufolge derzeit als abhängig.
An einem typischen Wochentag nutzten die Befragten im vergangenen Jahr zweieinhalb Stunden soziale Medien – und damit ähnlich lang wie in den beiden Jahren zuvor, aber eine halbe Stunde mehr als noch 2019. Beim Gaming lag die tägliche Nutzungszeit werktags bei 105 Minuten im Vergleich zu 91 Minuten im Jahr 2019. Streaming lag bei 93 Minuten täglich.
Besonders betroffen sind laut der Studie Jungen: Sechs Prozent von ihnen erfüllen die Kriterien einer krankhaften Mediennutzung, während es bei den Mädchen mit 3,2 Prozent rund halb so viele sind. Mädchen verfügten in der Pubertät häufig über ausgeprägtere soziale Kompetenzen, sagte Rainer Thomasius, Studienleiter und Ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am UKE. Sie seien ihrer Geschlechterrolle entsprechend anders sozialisiert und isolierten sich seltener als Jungen – ein wichtiges Merkmal starker Suchtentwicklung.
Als krankhaft gilt die Nutzung spätestens dann, wenn die Symptome über mindestens zwölf Monate hinweg anhalten. Die Studie verwendet bewusst das Zwölf-Monats-Kriterium, um vorschnelle Diagnosen zu vermeiden und eine Abgrenzung zu vorübergehenden Krisen in der Pubertät zu gewährleisten.
Experten warnen vor Folgen
Ein Kontrollverlust über das eigene Medienverhalten könne gravierende Auswirkungen auf das Leben Jugendlicher haben, warnten die Experten. In vielen Fällen komme es zu Leistungseinbrüchen in der Schule, nicht selten bis hin zum Schulversagen. Hinzu kämen soziale Isolation, der Verlust von Freizeitinteressen und familiäre Konflikte.
Erstmals wurde in der Studie auch das Phänomen „Phubbing“ untersucht. Es beschreibt die unangemessene Nutzung des Smartphones während sozialer Interaktionen, etwa in Gesprächen oder beim gemeinsamen Essen. Der Untersuchung zufolge kennen 35,2 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen das Problem und 29,2 Prozent der Eltern. Bei 25,2 Prozent der jungen Nutzer führte Phubbing bereits zu Konflikten, unter den Eltern gaben dies 28,2 Prozent an.
Im Zusammenhang mit dem hohen Medienkonsum warnen die Experten vor ernsthaften Folgen. „Wir sehen im Praxisalltag das Problem der psychischen Störungen sowie medienbezogener Störungen immer häufiger“, sagte Michael Hubmann, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte (BVKJ).
„Es gibt hier eine sichtbare Verbindung zu psychischen Belastungen wie Depressivität“, erklärte auch Thomasius. „Wir erleben im klinischen Alltag, dass die digitale Welt zunehmend auch als störend empfunden wird. Gleichzeitig zeigt sich ein fehlender Effekt bei der elterlichen Regulation“.
Die Untersuchung zeigt, dass viele Eltern mit der Medienerziehung überfordert sind: Etwa 40 Prozent kümmern sich laut Studie nicht hinreichend darum, die Mediennutzung der eigenen Kinder zeitlich einzuschränken. Ein Viertel der Eltern moderiere die Inhalte nicht, welche die eigenen Kinder im Netz aufsuchen. „Das Handeln der Eltern passt also häufig nicht zum eigentlichen Erziehungsanspruch“, sagte Thomasius.
Dies erlebe er auch im Praxisalltag, sagte Hubmann. Die Eltern seien überfordert und suchten Orientierung. Ein guter Ansatz sei das Mediensuchtscreening im Rahmen der J1- und J2-Vorsorgeuntersuchungen, ein Fragebogen, der im Rahmen der Längsschnittstudie für DAK-Versicherte entwickelt worden sei. Bei Auffälligkeiten könne direkt gehandelt werden und einer beginnenden Mediensucht entgegengewirkt werden.
„Das kann aber nur ein Baustein sein“, betonte Hubmann. „Wir müssen die Gesamtgesellschaft bei diesem Problem wieder mehr in die Verantwortung nehmen. Und das schließt den Lernort Schule explizit mit ein“.
„Im Kampf gegen die Mediensucht brauchen wir den Schulterschluss mit den Schulen“, machte auch Storm deutlich. An den Schulen müsse es ein neues Fach zur Stärkung der Gesundheitskompetenz geben, in dem eine gesunde Mediennutzung eine zentrale Rolle spielen müsse. Im Ausland gebe es dafür Best-Practice-Beispiele.
In der Längsschnittstudie wurden zwischen 2019 und 2024 rund 1.000 Kinder und je ein Erziehungsberechtigter zum Mediennutzungsverhalten in den Bereichen Social Media, Gaming und Streaming befragt.
Diskutieren Sie mit
Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.
Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.
Diskutieren Sie mit: