Wenn bewährte Behandlungen in randomisierten Studien scheitern
Viele medizinische Standards beruhen auf Plausibilitätsüberlegungen. Eine verengte Koronararterie gefährdet die Durchblutung des Herzmuskels, also müssen alle Patienten mit stabiler Angina einen Stent erhalten. Frauen erkranken vor den Wechseljahren seltener an einem Herzinfarkt als Männer, deswegen wird ein Hormonersatz nach der Menopause sie gesund erhalten. Wenn ein teures Krebsmedikament die Metastasen zurückdrängt, wird es auch das Leben des Patienten verlängern.
Das erscheint logisch. Doch der Schein trügt häufig. Randomisierte Studien haben gezeigt, dass Stents Patienten mit stabiler Angina nicht grundsätzlich nutzen. Die Notwendigkeit einer Antithrombozytentherapie kann sie sogar unnötigen Risiken aussetzen. Die Women’s Health Initiative bereitete der Hormonersatztherapie ein Ende, die vorher Frauen routinemäßig empfohlen wurde. Die US-Zulassung des Krebsmedikaments Avastin beim metastasierten Mammakarzinom, die 2008 aufgrund vorläufiger Ergebnisse einer randomisierten Studie erfolgte, musste drei Jahre später zurückgenommen werden, als die Endergebnisse den Vorteil für das Gesamtüberleben nicht bestätigen konnten.
Die Liste ließe sich fortsetzten. In einer früheren Analyse hatte ein Team um Vinay Prasad von der Oregon Health & Science University im New England Journal of Medicine für den Zeitraum von 2001 bis 2010 insgesamt 146 Studien gefunden, die gängige medizinische Therapien als unwirksam, unnötig oder sogar als schädlich identifizierten. Das waren damals nicht weniger als 40 Prozent aller randomisierten Studien, die die Evidenz von medizinischen Standards überprüft hatten.
Jetzt haben die Forscher den Zeitraum bis ins Jahr 2017 ausgedehnt und die Fachzeitschriften Lancet und JAMA in die Analyse einbezogen. Es wurden nicht weniger als 396 Studien gefunden, die ein „medical reversal“ zur Folge hatten. Als unwirksam erwiesen haben sich Kompressionsstrümpfe zur Reduktion des Thromboserisikos nach Schlaganfällen, die Wiederbelebung mit einem mechanischen Reanimationsstempel, externe Hüftprotektoren, zervikale Pessare zur Prävention einer Frühgeburt, epidurale Steroide bei der Spinalstenose, die routinemäßige Reparatur von Meniskusrissen und relativ aktuell der Nutzen von Fitnessarmbändern zur Gewichtskontrolle.
Viele dieser Behandlungen dürften auch heute noch vielen Therapeuten oder Anwendern einleuchten. Entsprechend verbreitet ist das Misstrauen in die Ergebnisse randomisierter Therapiestudien. Vermeintliche „Heiler“ dürften sie zunehmend als „fake evidence“ empfinden.
Diskutieren Sie mit
Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.
Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.
Diskutieren Sie mit: