Politik

„Wir brauchen keine klugen Ratschläge von Menschen, die pünktlich Feierabend machen können“

  • Mittwoch, 21. Dezember 2022

Berlin – Infolge der aktuellen Grippewelle sind die Arztpraxen zurzeit noch voller als sonst zu dieser Jahreszeit. In dieser Situation appelliert der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags, Helmut Dedy, an die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, ihre Praxen auch nach 18 Uhr sowie an Wochenenden und Feiertagen zu öffnen, um Kinderkliniken zu entlasten.

Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ) erklärt die Vizepräsidentin der Bundesärztekammer (BÄK), Ellen Lundershausen, weshalb dieser Appell mehr als unangemessen ist.

Ellen Lundershausen /BÄK
Ellen Lundershausen /BÄK

Fünf Fragen an Ellen Lundershausen, Bundesärztekammer

Deutsches Ärzteblatt: Frau Dr. Lundershausen, wie bewerten Sie die Äußerungen von Herrn Dedy?
Ellen Lundershausen: Diese Äußerungen sind dreist. Sie zeugen auch nicht von besonders viel Wissen über den Alltag von Ärztinnen und Ärzten. Denn natürlich arbeiten wir jetzt schon, bis wir alle unsere akut erkrankten Patienten versorgt haben – ganz egal, welche Öffnungszeiten auf unserem Praxisschild stehen. Und wir arbeiten hart, um diese Versorgung zu leisten. Am Ende eines anstrengenden Arbeitstages freuen wir uns, wenn unsere Arbeit auch wertgeschätzt wird. Was wir dann ganz sicher nicht lesen wollen, sind kluge Ratschläge von Menschen, die pünktlich Feierabend machen können – und die sich offensichtlich nicht mit unserer Arbeit auskennen. Denn zu der Arbeit in den Praxen kommen ja zum Beispiel auch noch Bereitschaftsdienste hinzu.

Außerdem ärgert mich, dass in dieser Äußerung mitschwingt, Klinikärztinnen und -ärzte würden mehr arbeiten als niedergelassene. So ähnlich klang das ja auch schon während der Coronapandemie an. Auch das zeugt nicht gerade von einer Kenntnis des Arztberufs. Denn wir Ärztinnen und Ärzte versorgen unsere Patientinnen und Patienten alle so gut, wie es uns möglich ist. Und dafür arbeiten wir nicht selten über unsere Grenzen hinaus – gerade in schwierigen Zeiten wie diesen. Das hat aber nichts damit zu tun, ob wir in einem Krankenhaus oder in einer Praxis arbeiten.

DÄ: Zu dieser Jahreszeit sind die Arztpraxen ja oft besonders voll. Ist es in diesem Jahr schlimmer als sonst?
Lundershausen: Ja. Nach vielen Gesprächen mit Ärztinnen und Ärzten habe ich den Eindruck, dass die Praxen in diesem Winter noch voller sind als sonst. Dazu kommt in diesem Jahr, dass Ärztinnen und Ärzte und das med. Personal selbst häufig erkrankt sind. Und dass es bei vielen Arzneimitteln Lieferengpässe gibt.

DÄ: Was kann denn die Politik tun, um Ärztinnen und Ärzte zu entlasten?
Lundershausen: Wir sind jetzt mitten in einer Grippewelle. Daran kann auch die Politik nichts ändern. Aber sie kann der Ärzteschaft mehr Wertschätzung entgegenbringen. Und sie kann die Zahl der Medizinstudienplätze erhöhen und Anreize setzen, damit auch die Zahl der Ausbildungsplätze in der Pflege erhöht wird. Abgesehen davon müssen wir uns alle grundsätzlich Gedanken darüber machen, wie man das System in den kommenden Jahren entlasten kann. Denn das ist angesichts des demografischen Wandels dringend notwendig.

DÄ: Was muss sich am Gesundheitssystem ändern?
Lundershausen: Wir wissen, dass wir in den kommenden Jahren mit weniger Ärztinnen und Ärzten mehr Patienten behandeln müssen. Das wird nur funktionieren, wenn wir etwas im System verändern. Was die Politik in diesem Zusammenhang tun kann, ist, den Bürgerinnen und Bürgern nicht ständig das Versprechen zu geben, dass sie weiterhin alle ärztlichen Leistungen erhalten werden, die sie sich wünschen. Denn das wird nicht möglich sein. Wir stehen jetzt auch im ambulanten Bereich vor der Aufgabe – ähnlich wie in der Notfallversorgung –, die wirklich kranken Patientinnen und Patienten von denjenigen zu unterscheiden, die nicht unbedingt einen Arzt sehen müssen.

DÄ: Wie kann das gelingen?
Lundershausen: Das kann nur gelingen, wenn man die Gesundheitskompetenz der Menschen verbessert. Wenn man einen Schnupfen hat, braucht man nicht zum Arzt zu gehen. Etwas anderes ist es bei einer richtigen Grippe mit Fieber. Damit muss man zum Arzt gehen. Wir hätten viel erreicht, wenn wir den Bürgerinnen und Bürgern verständlich machen könnten, wann sie in Zukunft die zunehmend kostbarer werdende Arztzeit in Anspruch nehmen sollten – und wann nicht. Das hat übrigens auch mit Versorgungs­qualität zu tun. Wir Ärztinnen und Ärzte wollen uns Zeit für die Patienten nehmen, die wirklich krank sind. Und nur, wenn wir uns diese Zeit nehmen können, können wir auch eine gute Behandlungsqualität erbringen.

In Thüringen haben wir in diesem Zusammenhang jetzt ein Merkblatt herausgegeben, in dem wir die Patientinnen und Patienten darum bitten, den Bereitschafts- und Notdienst in diesem Winter nur zu rufen, wenn wirklich auch ein Notfall vorliegt und der Patient sich nicht selbst zu helfen weiß.

fos

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