Ärzteschaft

„Wir müssen die Hemmschwellen für die interdisziplinäre Zusammenarbeit senken“

  • Dienstag, 29. November 2022

Berlin – Menschen mit Diabetes erkranken häufiger als Gesunde an einer Arteriosklerose. Gleichzeitig sind Durchblutungsstörungen die Hauptursache für Amputationen. So werden 80 Prozent aller Amputationen bei Men­schen mit Diabetes notwendig. Hauptursache für Amputationen beim diabeteskranken Menschen sind Durch­blutungsstörungen. Diese korrekt zu diagnostizieren und zu therapieren, hat daher große Bedeutung. Eine Aufgabe, die nicht nur Diabetologinnen und Diabtetologen betrifft.

Nicht zuletzt deshalb fand die diesjährige Herbsttagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Angiologie (DGA) statt. Der Tagungspräsident von Seiten der DDG war Kilian Rittig, niedergelassener An­gi­ologe und Diabetologe in Teltow. Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt äußert er sich zur Versorgungs­situation der Betroffenen in Deutschland und benennt Aspekte, die sich ändern müssen, damit diese ver­bessert werden kann.

Kilian Rittig/Klinikum FFO
Kilian Rittig/Klinikum FFO

Fünf Fragen an Kilian Rittig, Tagungspräsident der Deutschen Dia­betes Gesellschaft (DDG) sowie niedergelassener Angiologe und Diabetologe in Teltow.

Deutsches Ärzteblatt: Warum und wie oft werden Folgen am Herz- und Gefäßsystem bei Menschen mit Diabetes mellitus zu spät ent­deckt?
Kilian Rittig: Das Problem beginnt schon damit, dass die Grunder­kran­­kung – der Diabetes mellitus – viel zu spät entdeckt wird. Im Schnitt vergehen 5 Jahre vom Auftreten des Typ-2-Diabetes bis zur Diagnosestellung.

Da ist es kein Wunder, dass 50 % der Diabetespa­tien­ten schon bei der Diagnosestellung makrovaskuläre Schäden aufweisen. Erschwerend kommt hinzu, dass noch oft die Meinung herrscht, man könne „ein bisschen“ Diabetes haben.

So werden pathologische Stoffwechselwerte oft ignoriert und nicht die richtige Therapie eingeleitet. Jeder Patient mit einem Diabetes mellitus muss etwa mit einem Cholesterinsyntheseenzymhemmer (Statin) behandelt werden, und zwar unab­hängig vom LDL-Spiegel.

Ein Mensch mit Diabetes hat das gleiche Risiko einen Herzinfarkt zu erleiden, wie ein Patient ohne Diabetes und einem Herzinfarkt, einen zweiten Infarkt zu erleiden. Der Diabetiker stellt also per se einen vaskulären Hochrisikopatienten dar, der engmaschig kontrolliert werden muss.

Erschwerend hinzu kommt, dass viele Menschen mit Diabetes aufgrund einer vorliegenden Polyneuropathie die Symptome einer Durchblutungsstörung nicht rechtzeitig wahrnehmen, und erst einen Arzt aufsuchen, wenn es möglicherweise zu spät ist.

DÄ: Was muss sich ändern, damit Herz- und Gefäßerkrankungen früher diagnostiziert werden?
Rittig: Eigentlich ist es ganz einfach. Wir müssen nur endlich die Möglichkeiten nutzen, die wir schon lange haben. Die Fachbereiche – und hier vor allem die Angiologie und Diabetologie – müssen enger zusammen­arbeiten.

Die DDG und die DGA werden in diesem Zusammenhang eine Änderung der Anforderungen an die Zertifizie­rung von Gefäßzentren anstreben. Nämlich, dass in einem Gefäßzentrum eine Diabetologin oder ein Diabeto­loge vorhanden sein muss, mindestens aber diabetologische Fachkenntnis nachgewiesen werden muss.

Wir müssen zudem die Hemmschwellen für die interdisziplinäre Zusammenarbeit senken. Es kann nicht sein, dass sich verwandte Fächer, die aufeinander angewiesen sind, gegenseitig die Patienten streitig machen, weil jeder den Fall für sich abrechnen will.

Eine Reformierung des diagnosebezogenen Fallpauschalensystems (DRG-Systems) ist nicht nur deswegen dringend geboten, wird aber sicher noch eine gewisse Zeit dauern. Zeit, die wir nicht haben. Die gemeinsame wirtschaftliche Veranlagung von Gefäß- und Diabeteszentren ist aber eine unkomplizierte Lösung, die jedes Krankenhaus selbst entscheiden kann. Viele Träger schrecken jedoch davor zurück, weil man dann nicht immer sicher weiß, wie sich die Zahlen zwischen den Abteilungen verteilen.

Eine kurzsichtige Sichtweise. Ich durfte an verschiedenen Gefäßzentren arbeiten und stehe in Kontakt mit vielen interdisziplinären Gefäßzentren. Mein Eindruck ist, dass Zentren, die gemeinsam wirtschaftlich ver­an­lagt sind, nicht nur häufig die bessere Medizin machen, sondern auch kosteneffizienter arbeiten. Eine Win-Win-Win-Situation, die viel mehr Schule machen muss.

Ein weiterer Anachronismus, der in der jetzigen Form abgeschafft gehört, sind die Sektorengrenzen. Sie machen die Versorgung unserer Patienten unnötig kompliziert und zudem teuer.

DÄ: Wie gut wird das vom G-BA beschlossene Zweitmeinungsverfahren vor Amputationen angenommen?
Rittig: Das Zweitmeinungsverfahren ist ein großer Wurf, für den ich der Arbeitsgemeinschaft Diabetischer Fuß der DDG ausdrücklich danken möchte. Im Moment ist er jedoch sehr vielen Kolleginnen und Kollegen noch nicht bekannt.

Von Patientinnen und Patienten ganz zu schweigen. Die Internetseite www.amputation-nein-danke.de enthält Informationen für Betroffene und Behandler hinsichtlich ihrer Rechte und auch Pflichten – nämlich, dass jeder Patient, der amputiert werden soll, auf sein Recht auf eine Zweitmeinung hingewiesen werden muss. Notfall­amputationen sind davon natürlich ausgenommen.

An der Praktikabilität des Zweitmeinungsverfahrens hapert es aber noch. So schränkt die durchaus sinnvolle Beschränkung der Fachrichtungen die Zahl der Zweitmeinungsgeber ein. Nicht nachvollziehbar hingegen ist die Tatsache, dass in der gegenwärtigen Fassung sowohl eine ambulante Zulassung als auch eine Weiterbil­dungsermächtigung gefordert wird.

Warum das eine und das andere nötig sein soll, erschließt sich nicht, die Kombination aus beiden Anforderun­gen noch weniger. Diese hohen Hürden führen dazu, dass in einer Stadt wie Berlin mit ihren fast vier Millionen Einwohnern ganze sieben Kolleginnen und Kollegen als Zweitmeiner fungieren dürfen. Wenn ich auf das Land blicke, wird es ganz düster. Aber das Problem ist erkannt und es wird nachgebessert werden.

Ein weiterer Punkt, der die Motivation sich als Zweitmeinerin oder Zweitmeiner zu engagieren stark reduziert, ist die Vergütung. Für eine ausführliche Sichtung der Akten, Untersuchung des Patienten und Erstellung eines schriftlichen Gutachtens, kann die Zweitmeinerin oder der Zweitmeiner der Krankenkasse 8,36 Euro in Rechnung stell­en.

DÄ: Welche Entwicklung zeichnet sich bei Minor- und Majoramputationen bei Diabetes mellitus in Deutsch­land ab?
Rittig: Im Prinzip eine erfreuliche. Die Absolutanzahl der Amputationen bleibt zwar weiterhin bei zirka 30.000 bis 40.000 diabetesassoziierten Amputationen weitgehend gleich, die Anzahl der Majoramputationen – also der Amputationen des Unter- und/oder Oberschenkels gehen aber zurück. Dafür steigen die Zahlen für die Minoramputationen. Aber immerhin ist es schon mal ein Erfolg, ein Bein zu erhalten und „nur“ einen Zeh zu verlieren.

Insgesamt wird aber immer noch zu viel amputiert. Dabei werden verhinderbare Amputationen durchgeführt. Einer der Gründe liegt mal wieder im DRG-System und zwar in mehrerlei Hinsicht. Zum einen bietet es falsche Anreize. Die Amputation ist weit besser vergütet als ein aufwändiger Versuch eine Extremität zu erhalten.

Zudem ist der Krankenhausaufenthalt bei einer Amputation in der Regel kürzer. Außerdem ist die Vergütung für jene Häuser ein Anreiz, Amputationen durchzuführen, die keinerlei Expertise auf dem Gebiet des diabeti­schen Fußsyndroms (DFS) aufweisen.

So sehen wir es leider häufig, dass Gliedmaßen amputiert werden, ohne dass die arterielle Perfusionssituation geklärt wurde. Dadurch könnten aber Amputationen verhindert werden beziehungsweise postoperative Wundheilungsstörungen, die bei einer schlechten arteriellen Perfusion vorprogrammiert sind. Zudem werden Patienten mit einem DFS nach einer stattgehabten Amputation häufig ohne geeignetes Schuhwerk entlassen. Bei fehlender Druckentlastung kann eine Wunde aber nicht heilen und die nächste Amputation ist die Folge.

Es gibt Vorgaben, welche Krankenhäuser Aorteneingriffe, Carotis-Thrombendarteriektomien oder Speiseröh­ren­operationen durchführen dürfen. Warum nicht für elektive Amputationen? In Anbetracht der hohen post­operativen Letalität bei Amputationen, die mit der maligner Erkrankungen vergleichbar ist, sowie der extrem hohen Zahl Betroffener, ist das unverständlich. Die DDG und die DGA fordern daher vehement, die Einführung von Mindeststandards für Krankenhäuser, die elektive Amputationen durchführen.

DÄ: Welche Erkenntnisse vom Kongress sind darüber hinaus besonders relevant für Diabetologinnen und Diabetologen in der Klinik und Praxis?
Rittig: Dass wir nur zusammen stark sind. Und das gilt nicht nur für den Schulterschluss zwischen Angiologie und Diabetologie, sondern auch für all die anderen Kolleginnen und Kollegen, die mit der Behandlung von diabetischen Komplikationen zu tun haben, ärztlich wie nicht ärztlich.

Wir haben außerdem gelernt, wie sinnvoll es in Folge dessen ist, die Doppelausbildung – Angiologie und Dia­betologie – zu ergreifen, dass wir künftig mit relevant verschiedenen Subtypen des Typ-2-Diabetes umzuge­hen haben, die auch Unterschiede in der Therapie nach sich ziehen werden, und – ganz wichtig – dass wir einen gemeinsamen Kongress mit der DDG und der DGA wiederholen sollten.

gie

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