Frau Doktor

Wir sind viele, die zu wenige sind

  • Dienstag, 20. Juni 2017

Es ist 16.20 Uhr. In zehn Minuten ist Dienstende. Jetzt, beim Schreiben dieses Textes verdrehe ich die Augen. Als ob man jetzt noch irgendetwas erläutern müsste. Jeder von uns weiß doch, dass 16.30 Uhr nur eine Zahl ist, die uns anzeigt, was man bis zum regulären Feierabend noch nicht geschafft hat. Eine Hülse. Was ist passiert?

Wieder einmal bin ich ein bisschen früher gekommen. Manchmal schaffe ich das nicht – in der Regel, wenn der letzte Abend mit Überstunden verbunden war. Heute aber, ja heute, da bin ich vorbereitet: Schon vor der Frühbesprechung ist meine Patientenliste auf dem neuesten Stand, die Entlassbriefe sind weitestgehend diktiert.

Frühbesprechung. Schneller Kaffee, hoch ins Arztzimmer. Übergabe. Dann klingelt das Telefon. Eine Angehörige erkundigt sich. Ich setze mich an den Computer, um vor der Visite nach den Laborwerten zu gucken. Es klingelt wieder. Die Leitstelle: Ein Hausarzt ist dran. Eine Angehörige sitzt bei ihm, wir haben gestern darüber gesprochen, dass sie als Bevollmächtigte jetzt entscheiden muss, wie es weitergeht. Er möchte sie beraten und sich hierfür Informationen einholen. Dem Patienten geht es schlecht, sehr schlecht. Wir legen auf. Ich brauche zwei Minuten, um zu überlegen, wo ich vorher stehen geblieben war. Es klopft. Jemand möchte gegen ärztlichen Rat gehen. Ihm ist aufgefallen, dass er eine Tablette seiner Medikation nicht nachvollziehen kann, mit welcher er schon ins Krankenhaus gekommen war. Das reicht als Grund. Eine Beschimpfung folgt ebenfalls. Jetzt muss ich das Formular suchen, das Patienten, die sich gegen ärztlichen Rat entlassen, unterzeichnen sollten. Ich kläre den Herrn über die möglichen Risiken einer vorzeitigen Entlassung auf.

Zurück zum PC. Wo war ich?

Visite. Heute stehen einige wichtige Entscheidungen an. Ich kann nur beraten und meine medizinische Empfehlung geben. Die Angehörigen sind sich weiterhin unsicher. Die Zeit rennt schon wieder denke ich. Ja, mir geht es heute nahe. Nicht immer, aber manchmal, da verfolgt einen das Thema länger als bis zum nächsten Patienten.

Aber diesmal wartet hinter der übernächsten Tür eine ähnliche Entscheidung. Ich kürze die klareren Fälle deutlich ab, um mehr Zeit für diese Beiden zu haben. Gut fühle ich mich dabei nicht. Ein Rehantrag wird mir auf den Visitenwagen gelegt – die Kranken­kasse hat vorerst abgelehnt – und fragt nach. Anbei ein neunseitiges Formular, das ich ausfüllen soll. Ich lege es beiseite. Zuerst müssen die neuen Anordnungen in den Kurven verschriftlicht werden, die Schwestern kommen sonst in Zeitdruck, diese alle umzusetzen.

Ich ärgere mich, bei jemandem übersehen zu haben, das Antibiotikum schon einen Tag früher abzusetzen. Kein Beinbruch, klar. Eine Patientin strahlt mir entgegen, als sie mit den Physiotherapeuten das erste Mal seit Längerem wieder den Gang entlangläuft. Ich nicke freudig zurück. Zurück ins Arztzimmer: Wenn ich meine Liste nach der Visite direkt auf den neuesten Stand bringe, bin ich meist effizienter.

Es klopft. In zehn Minuten sei Teambesprechung – jemand ist krank geworden und nun muss ein Dienst besetzt werden. Derjenige wird dann auf einer Station fehlen. An diesem Abend bleibe ich länger, auch weil ich heute langsamer bin. Es sind oft genau diese Tage, an denen man versucht, möglichst effizient zu sein, die ihre traurigen Überraschungen bereithalten: ein Patient verschlechtert sich rasch. Ein Telefonat mit seinem Bruder muss geführt werden. Jemand stürzt. Ich seufze.

Es sind nicht alle Tage so. Heute aber.

Nun könnte man freilich über die in Selbstmitleid und Naivität ertrinkenden Mediziner lachen- schließlich wusste jeder lange vor der ersten Stelle, dass ein pünktlicher Feierabend schon einmal nicht dazugehören würde. Generation Y halt, die neuen Achtsamkeitsgurus. Nun ja, ich kenne Mediziner in mehren Städten, die unter­schiedlicher nicht sein könnten, darunter sind viele ohne den Hang zur Wehleidigkeit und Achtsamkeitszwang. Wenn man uns beschreibt, fallen eher Begriffe wie Wochenendschichten oder Funktionskleidung (man muss halt auch bei Regen ins Seminar...).

Darum geht es hier aber ohnehin nicht. Entgegen dem uns vorauseilenden Ruf einer Latte-macchiatto-Generation ist es oft nicht die Länge der Überstunden allein, die uns schafft. Es ist die Erwartungshaltung, möglichst viele Patienten (man google Fallpauschale) möglichst empathisch (sich abends noch im Spiegel ansehen können) und medizinisch gut (erstes Gebot: Nicht schaden!) zu behandeln. Das klingt schön, das ist fein, dafür hat man das studiert. Einziger Haken: Diese Erwartungshaltungen kollidieren diametral untereinander. Und sie kollidieren schlicht mit der Anzahl der Ärzte. Es ist wie die Quadratur des Kreises. Das bestätigt nahezu jeder (Assistenz)arzt. Noch brennen wir. Die Frage ist: Wie lange noch? Denn ja,  wir sind viele. Wir sind nur immer noch zu wenige.

Es war einer dieser Tage denkend

grüßt

Frau Doktor

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